Der Zahnarzt Wolfgang Gerner ist seit zwei Jahren auch Wengerter. Nebenerwerbler wie er sind die Zukunft der Steillagen, sagt der Vorsitzende der Weingärtnergenossenschaft Bad Cannstatt. Sie haben ihren beruflichen Ausgleich und die Kulturlandschaft wird erhalten.

Bad Cannstatt - Die Treppe ist schief, Trittsicherheit ist erforderlich. Der Kanal zwischen den Travertinmauern, durch den sie sich den steilen Weinberg hochzieht, wird immer enger. Wolfgang Gerner muss sich teils leicht seitlich drehen, um hindurchzupassen. Es sind unzählige Stufen bis zum obersten Punkt seines Weinbergs im Cannstatter Zuckerle, direkt an der Hofener Straße. Der Aufstieg ist schweißtreibend. Oben angekommen entlohnt der sagenhafte Ausblick auf den Neckar und die umliegenden Weinberge jede Mühe. „Ich genieße es hier oben“, sagt Gerner. Satt gesehen hat er sich noch nicht – immerhin ist er noch nicht lange im Geschäft, quasi ein Nachwuchsweingärtner.

 

Wolfgang Gerner hat sich schon immer für Wein interessiert. „Jedoch eher als Konsument“, sagt der 50-Jährige und lacht. Dass er einmal selbst 20 Ar Weinberg bewirtschaftet, hätte er bis vor zwei Jahren selbst nicht geglaubt. Denn eigentlich ist Gerner Zahnarzt und hat sogar eine eigene Praxis auf den Fildern, in der er sich auf Wurzelbehandlungen spezialisiert hat. Als der zweifache Ironman-Finisher sportlich etwas kürzer treten wollte, beschloss er, dass ein Weinbau-Praktikum das richtige sei, um die neu gewonnene freie Zeit zu nutzen. „Ich habe Spaß am Grünzeug“, sagt er scherzend und meint, dass er sich gerne mit Pflanzen beschäftigt und einen grünen Daumen hat. Aus dem Praktikum bei einem Weingärtner der Cannstatter Genossenschaft wurde jedoch ganz schnell eine Lehre am eigenen Weinberg. Die damals völlig brach liegende Steillage stand zum Verkauf – Wolfgang Gerner schlug kurzerhand zu.

Pflegen und lesen im Zweitberuf

Als Nebenberufler ist der Zahnarzt keine Seltenheit bei den Weingärtnern Bad Cannstatt, sagt der Geschäftsführer der Genossenschaft, Marc Nagel. 123 Mitglieder hat sie derzeit, fast alle pflegen und lesen im Zweitberuf. Nur noch sieben Betriebe bewirtschaften ihre Weinberge im Haupterwerb. Die meisten Nebenerwerbswengerter „bewirtschaften übertragene Flächen“, sagt Nagel. Das heißt, dass sie die Weinberge erben und die Familientradition fortführen, auch wenn das allein finanziell nicht mehr ausreicht.

Solch vererbte Erfahrung fehlt Wolfgang Gerner. Kaum zu glauben, so wie er sich an diesem Nachmittag durch den Weinberg bewegt. Mit sicherem Schritt geht er zwischen den Reben auf und ab, bricht mit geübten Augen und Fingern die nicht brauchbaren Triebe an seinen Trollinger-, Merlot- und Cabernet-Franc-Pflanzen ab. Wie selbstverständlich erklärt er Fachtermini wie die Flachbogenerziehung der Reben oder Ertragsreduzierung. „In der Praxis habe ich eben schnell gelernt“, sagt Gerner.

Immer mehr Fachfremde suchen einen Ausgleich

Zwar ist der Zahnarzt ohne Wengerterhintergrund im Weinberg noch eher eine Seltenheit, sagt Genossenschaftschef Marc Nagel, doch es gebe immer mehr Nebenberufler, die fachfremd sind, aber „einen Ausgleich suchen und ein Stück Kulturlandschaft pflegen wollen“. Sie seien letztlich die Zukunft des Steillagenweinbaus wie im Cannstatter Zuckerle. Denn ertragreich sei diese Arbeit kaum noch. Die Steillage erfordere das Vier- bis Fünffache an Arbeit. „Immerhin muss alles per Hand gemacht werden“, sagt Nagel.

Was das bedeutet, hat Wolfgang Gerner in den vergangenen zwei Jahren am eigenen Leib erfahren. Mit nur wenig Hilfe hat er die Brache entrümpelt, Pfosten gesetzt, Drähte gespannt, Reben gepflanzt – nur für den Wiederaufbau der eingestürzten Travertinmauer hat er sich professionelle Hilfe geholt. Da er keine Herbizide einsetzt, muss er je nach Jahreszeit alle zwei Wochen mit dem Handmäher bergauf und bergab, um das Grün zwischen den Reben zu schneiden. „Vier Stunden brauche ich dafür.“ Zumindest wenn er nach System arbeitet – die Steillage wolle natürlich keiner unnötig zu oft hinauf. „Einmal stand ich mitten im Berg und der Sprit war leer“, erzählt Gerner und lacht. Solche Anfängerfehler waren aber schnell ausgemerzt.

In diesem Herbst wird er seine erste Ernte einfahren. Er will seine Trauben nicht in den großen Gemeinschaftskessel werfen, sondern seinen eigenen Wein ausbauen lassen. Eine Idee, wie er heißen soll, hat Wolfgang Gerner auch schon: „Reinstoff“, sagt er sichtlich stolz.