Die Zahl der Infektionen ist gesunken, doch es gibt viele Kinder, die sich bei ihrer Mutter mit dem HI-Virus anstecken – auch in Deutschland. Oft ahnen die Mütter nichts davon. Für die Kinder kann das Diskriminierung bedeuten – und eine nicht endende Therapie.

Stuttgart - Selten in Deutschland, aber doch immer wieder folgt auf eine freudige Nachricht ein enormer Schock: Eine Frau erfährt, dass sie schwanger ist – und kurz darauf ergibt ein HIV-Test, dass sie das bedrohliche Virus in sich trägt. „Das ist eine traumatische Situation“, sagt Annette Haberl, Ärztin im HIV-Zentrum der Frankfurter Uniklinik. Zwar lässt sich die Infektion inzwischen gut kontrollieren, alte Schreckensbilder aber bestimmen noch immer die öffentliche Wahrnehmung – und machen HIV zum Stigma. „Die Gesellschaft hat nicht Schritt halten können mit dem medizinischen Fortschritt.“ Das soziale Verständnis soll eines der großen Themen bei der Welt-Aids-Konferenz in Melbourne sein, die am Wochenende beginnt.

 

Die Zahl schwanger werdender HIV-positiver Frauen in Deutschland ist so klein nicht: Im Jahr gibt es nach Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) geschätzt etwa 200 bis 250 solche Geburten. Cornelia Feiterna-Sperling, Kinderärztin in der HIV-Kindertagesklinik der Charité in Berlin, geht sogar von mindestens 350 solchen Geburten aus. „Allein an der Charité sind es etwa 50 pro Jahr.“ Ein Großteil der Frauen ahnt nichts von der Infektion. „Die Situation in Deutschland ist leider so, dass die Zahl der Schwangeren mit HIV nicht erfasst wird.“ Das soll sich ändern. „Wir haben ein bundesweites HIV-Schwangerschaftsregister initiiert“, sagt Haberl, die das Projekt leitet. Alle Ärzte, die Schwangere betreuen, können ihre Daten dort eingeben. „Es wird allerdings noch einige Zeit dauern, bis das Register aussagekräftige Werte liefert.“

Bis in die 90er-Jahre wurde HIV-Infizierten zur Abtreibung geraten – das liegt heute in weiter Ferne: Wenn die Therapie früh einsetzt und die Viruslast unter die Nachweisgrenze drückt, können die Frauen ihr Kind auf natürlichem Weg zur Welt bringen. „Die Gefahr, das Virus dann während der Geburt auf das Neugeborene zu übertragen, liegt bei unter einem Prozent“, erklärt Haberl. Ohne Behandlung betrage es 20 bis 25 Prozent, werde das Kind gestillt, könne es auf bis zu 40 Prozent steigen. Aber auch optimal therapierten Müttern werde empfohlen, nicht zu stillen – „wegen möglicher unerwünschter Effekte der Medikamente in der Muttermilch“.

„HIV schränkt schon ein“

Das Virus lässt sich mit einer antiretroviralen Therapie meist in Schach halten. Unterhalb der Nachweisgrenze richtet es kaum Schäden an. „Aber HIV schränkt schon ein. Man muss tagtäglich Medikamente nehmen, ein Leben lang“, betont Feiterna-Sperling. Vor allem anfangs kann es Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schlafstörungen und Hautausschläge geben. Eine seltener gewordene Langzeitnebenwirkung ist die Stoffwechselstörung Lipodystrophie, bei der das Unterhautfett im Gesicht und an den Extremitäten schwindet, im Nacken und am Bauch hingegen zunimmt. Auch die Lebenserwartung kann sich verringern, wenn die Therapie erst spät im Verlauf der Infektion beginnt.

Schätzungen gehen von bundesweit 15 000 HIV-infizierten Frauen aus. Mehr als 400 Frauen stecken sich jährlich neu an. Da ernste Symptome lange ausbleiben können, erfahren viele erst nach Jahren oder Jahrzehnten von der Infektion. Frauenärzte sollen Schwangeren darum schon im ersten Gespräch zu einem HIV-Test raten. „Das empfehlen die Richtlinien, ein Muss ist es aber nicht“, sagt Annette Haberl. Es gebe noch immer Ärzte, die nicht auf den Test hinwiesen. Abschreckend wirke mitunter aber auch, wie mancher Arzt den Test anbiete, ergänzt die Berliner Kinderärztin Feiterna-Sperling. Bei einer lapidaren Frage, ob man den Test wolle, sei die Reaktion verständlicherweise oft ein „Für was halten Sie mich denn“. Ein Arzt müsse sorgsam vermitteln, dass ein normales Sexleben zur Ansteckung führen kann.

In den wenigen Fällen, in denen eine Infektion an das Kind weitergegeben wird, geschieht dies meist, weil zu lange niemand von den Viren im Körper der Mutter wusste. Das RKI in Berlin gibt als geschätzte Zahl HIV-infizierter Kinder unter 14 Jahren bundesweit 200 an – was manche Experten für deutlich zu niedrig halten.

Schwierig wird die Therapie in der Pubertät

Die gesundheitlichen Folgen für heute therapierte Babys und Kinder sind noch nicht absehbar. „Die modernen Medikamente sind jedenfalls viel besser verträglich und haben weniger Nebenwirkungen“, erklärt Feiterna-Sperling. Die Lebensprognose hänge ohnehin stärker von einem anderen Faktor ab: der Therapietreue. Bei Kindern sei dafür das Elternhaus entscheidend, die Kinder selbst akzeptierten das Pillenschlucken nach anfänglicher Abscheu meist schnell als normalen Lebensbestandteil. Kritisch seien Situationen wie Klassenfahrten – auch wegen der dann drohenden Nachfragen. Mitunter wissen die Kinder selbst noch nichts von der Diagnose „HIV“. „Wir empfehlen, altersentsprechend die Wahrheit zu sagen“, sagt Feiterna-Sperling. Ein Vierjähriger bekomme gesagt, dass mit seinem Blut etwas nicht stimme, erst ab zehn oder elf Jahren komme das Wort „HIV“ ins Gespräch. „Mütter haben dann oft schreckliche Angst, von ihren Kinder Vorwürfe zu hören“, sagt Feiterna-Sperling. „Das passiert aber nicht, ich habe noch nicht einmal von so einer Reaktion gehört.“

„Ein viel größeres Problem ist, Jugendliche bei der Stange zu halten“, betont die Ärztin. Die Jungen und Mädchen müssen sich ausgerechnet dann neuen Problemen stellen, wenn ihnen die Pubertät schon genug Konflikte beschert. „Sie haben zum Beispiel oft ihren ersten Partner, was sollen sie dem sagen?“ Ausgerechnet in diese schwierige Zeit falle zudem der Wechsel vom Kinder- zum Erwachsenenarzt.

Immer wieder gebe es Jugendliche, die zumindest zeitweise keine Medikamente mehr schluckten. „Dann geht die Viruslast rasant hoch“, sagt Feiterna-Sperling. Resistenzen, die die künftigen Behandlungsoptionen verringern, können entstehen. Und es drohen typische Folgeerkrankungen unbehandelter HIV-Infektionen: Herpes, Zytomegalie, die fast alle Organe befallen kann, Toxoplasmose, von Pilzen verursachte Lungenentzündungen. Nicht jeder junge Mensch findet aus dieser düsteren Lebensphase auch wieder hinaus. „Es gibt immer auch Jugendliche, die wir nicht retten können“, sagt Feiterna-Sperling.

„Indiskutable Reaktionen“ in der Kita

Eine Ursache dafür sind die Vorurteile in der Gesellschaft. „Das Problem ist, dass es ein sexuell übertragenes Virus ist“, sagt die Frankfurter Ärztin Haberl. „Da tauchen sofort neugierige Fragen nach dem sexuellen Vorleben auf: Von wem hat die Mutter das, mit wem hat die sich eingelassen?“ Zum Schock über die Diagnose komme für Frauen häufig die Bürde, kaum jemandem im Umfeld davon erzählen zu können.

„Wir haben lange gesagt: wenn nie jemand erzählt, dass er infiziert ist, ändert sich auch nichts in der Gesellschaft“, sagt Feiterna-Sperling. „Viele Frauen haben aber später gesagt, dass sie es nicht noch einmal erzählen würden.“ Deshalb werde inzwischen nicht mehr zum Outing geraten. „Ich empfehle das vor allem kurz nach der Diagnosestellung nicht, auch wenn ein solches Familiengeheimnis auf Dauer viel Energie kostet“, betont auch Haberl.

Auch für die Kinder der Frau sei die Gefahr groß, diskriminiert zu werden. „Da gibt es völlig indiskutable Reaktionen“, sagt Haberl. Etwa, wenn die Infektion eines Kindes oder seiner Mutter in Kita oder Schule bekanntwerde. Viele Eltern lehnten ab, dass ihr Sprössling mit dem betroffenen Kind in einer Gruppe bleibe. Und so mancher Kitaträger verlange ein Attest dafür, dass vom Kind keine Gesundheitsgefahr ausgehe. Alle Studien, alle Daten, alle Erfahrungen zeigen, dass derlei Vorbehalte haltlos sind. „Mit der Therapie wird bei Kindern schon im ersten Lebensjahr begonnen“, erklärt Feiterna-Sperling. „Ist ein Kind optimal eingestellt, dann liegt die Virenzahl unter der Nachweisgrenze und es gibt quasi kein Ansteckungsrisiko.“ Im normalen sozialen Leben, beim Essen vom selben Teller etwa oder Trinken aus demselben Glas gebe es keine Übertragungen und schon gar nicht bei einem gut therapierten Kind. Auch dann nicht, wenn zwei Kinderköpfe im Spiel so gegeneinander knallten, dass es blutige Wunden gebe.

Positive Trends im UN-Aids-Bericht

Infektionen
Die Vereinten Nationen sehen Fortschritte im Kampf gegen Aids. Die Zahl der HIV-Neuinfektionen sank 2013 auf geschätzte 2,1 Millionen, wie aus dem Jahresbericht des UN-Programms zur Aids-Bekämpfung (UNAIDS) hervorgeht. 2001 waren es noch 3,4 Millionen. „Ein Ende dieser Epidemie ist möglich“, sagt UNAIDS-Direktor Michel Sidibé. Etwa 1,5 Millionen Menschen starben 2013 an der Krankheit. Ein Großteil der HIV-Infizierten – fast 25 Millionen – lebt in Afrika südlich der Sahara. 70 Prozent aller weltweiten Neuansteckungen 2013 gab es in dieser Region.

Kinder
Große Fortschritte wurden bei der Verhinderung von Neuinfektionen bei Kindern erzielt. 2013 wurden 240 000 Kinder weltweit mit dem HI-Virus infiziert – 2002 waren es noch 580 000.

Deutschland
In Deutschland ist die Situation vergleichsweise gut. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts in Berlin sind etwa 78 000 Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert. 2013 gab es rund 3300 HIV-Neudiagnosen.