Auf dem Welt-Aids-Kongress in Melbourne diskutieren Mediziner darüber, wie man HI-Viren aus ihren Verstecken im Körper locken kann. Dort können sie Jahre überdauern – weswegen ein Patient nicht schon geheilt ist, wenn im Blut keine Viren mehr sind.

Stuttgart - Das HI-Virus ist tückisch. Es verwandelt sich ständig. Daher ist es schwierig, Medikamente gegen die Immunschwächekrankheit Aids zu entwickeln. Zunächst wirksame Medikamente wurden schnell unwirksam, weil sich durch die enorme Wandlungsfähigkeit resistente Viren entwickelt hatten. Mittlerweile gibt es mehrere verschiedene HIV-Stämme, die ganz unterschiedlich behandelt werden müssen. Dennoch hat man dies mittlerweile im Griff. Das Problem sind vielmehr die Viren, die sich sofort nach der Ansteckung im Körper des Opfers verstecken. Sie nisten sich in Zellen ein und können über Jahre oder Jahrzehnte schlummern, ohne dass dies dem Betroffenen schaden würde.

 

Der Erreger kann so unbegrenzt überdauern, aber jederzeit wieder aufwachen und ausbrechen. Gegen die freien Viren, die sich auch im Blut nachweisen lassen, wirken die vorhandenen Medikamente. Sie halten die Vermehrung auf einem niedrigen Niveau. Teilweise kann man die Virenmenge im Blut gar nicht mehr nachweisen. Doch als geheilt können solche Personen nicht bezeichnet werden. Das kann nur für Patienten gelten, die nicht mehr einen einzigen Virus in ihren Zellen verbergen. So musste man erst kürzlich erkennen, dass das sogenannte Mississippi-Baby doch nicht geheilt war: Das HIV-positive Baby hatte sehr früh Medikamente erhalten, die schließlich abgesetzt werden konnten, weil es im Blut keine Viren mehr gab. Das Kind galt jahrelang als funktionell geheilt. Doch Anfang Juli sind bei dem Mädchen erneut Viren aufgetaucht, die bis dahin unerkannt in ihren Zellen geschlummert hatten.

Dieses Virenreservoir, das man bisher kaum kennt, ist ein Ziel der Aidsforschung, wie beim Welt-Aids-Kongress in Melbourne deutlich wurde. Mehrere Arbeitsgruppen stellten ihre Arbeiten auf der Suche nach dem Versteck der Viren vor – mit dem Ziel, die schlummernden Viren zu wecken und damit behandeln zu können, oder die Verstecke unbrauchbar zu machen. Forschern in den USA ist vor kurzem erstmals gelungen, das Virus in Versuchen mit Zellkulturen im schlafenden Zustand aus den Zellen zu isolieren. Dafür haben die Wissenschaftler um den Aidsforscher Kamel Khalili von der Temple-Universität in Philadelphia ein Enzym entwickelt, das ganz spezifisch das Erbgut der Viren erkennt und gezielt aus der menschlichen Zelle herausschneiden kann. Die mikrobiologische Schere scheint dem menschlichen Erbgut nichts anhaben zu können, so dass man diese Ergebnisse zur Entwicklung von Medikamenten nutzen könnte. Allerdings, so schränken die Forscher ein, ist es bis dahin noch ein weiter Weg.

Die Viren-Reservoirs entstehen wohl recht schnell

Dänischen Forschern ist es gelungen, die schlummernden Viren mit einem Mittel aus der Krebstherapie zu wecken. Ole Søgaard von der Universität Aarhus stellte auf der Aids-Konferenz seine Arbeiten vor, schränkte jedoch ein, dass es sich um eine sehr kleine Studie mit nur sechs Patienten handelte. Die Personen nahmen seit Jahren Medikamente, so dass die Viren unter der Nachweisgrenze lagen. Mit dem Krebsmedikament Romidepsin konnten die Viren aus den Zellen freigesetzt und dann mit den Aids-Medikamenten behandelt werden. Wie schnell die Aids-Erreger ein Viren-Reservoir anlegen, zeigen Versuche mit Affen, die ein vergleichbares Krankheitsbild wie der Mensch zeigen. Forscher um den Virologen James Whitney von der Harvard Medical School konnten nachweisen, dass bereits drei Tage nach der Infektion ein Viren-Reservoir angelegt war, sogar noch bevor die Viren im Blut der Tiere nachgewiesen werden konnten.

HI-Viren gehören zu den sogenannten Retroviren. Ihr Erbgut besteht nicht wie beim Menschen aus DNA, sondern aus RNA, gewissermaßen ein chemisch verwandter Code der Vererbung. Viren können sich alleine nicht vermehren, sie brauchen dazu menschliche Zellen. HI-Viren befallen hauptsächlich die sogenannten T-Helfer-Zellen des Immunsystems und programmieren diese so um, dass sie HI-Viren produzieren. Bei diesem Vorgang verschmilzt die Hülle des Virus mit der menschlichen Zelle und schleust seine Erbinformation RNA in die Zelle ein. Zunächst muss die RNA vom Enzym Reverse Transkriptase, das die Viren mitbringen, in DNA übersetzt werden. Nur so kann sie in das menschliche Erbgut eingebaut werden.

Dann produziert die Zelle Viruseiweiße. Ein weiteres Werkzeug, das die Retroviren mitliefern, ist eine Protease, die die Eiweiße richtig zuschneidet, damit sie zu einem neuen Virus zusammengesetzt und mit einer Hülle versehen werden können. Die fertigen Viren werden aus der Zelle entlassen und können ihren Vermehrungszyklus in weiteren Zellen neu beginnen. Medikamente setzen nun an unterschiedlichen Stellen in diesem Vermehrungszyklus an – allerdings nur bei den freien Viren. Mit einer Kombination aus verschiedenen Mitteln ist die Lebenserwartung im Vergleich zu den neunziger Jahren deutlich gestiegen – zumindest in den industrialisierten Ländern. In Entwicklungsländern hingegen fehlt oft das Geld für die meist teuren Medikamente. Hier ist Aids trotz großer Fortschritte immer noch für viele eine todbringende Erkrankung.

Millionen Lebensjahre gerettet

Weltweit sinkt die Zahlen der Neuinfektionen mit dem HI-Virus – im vergangenen Jahr waren es nach Angaben der UN noch 2,1 Millionen Menschen. 2001 wurden 3,4 Millionen Neuinfektionen registriert. Gleichzeitig ist die Zahl der Menschen, die eine Behandlung mit lebensnotwendigen HIV-Medikamenten erhalten, auf knapp 14 Millionen deutlich gestiegen. Laut UN wurden durch medizinische Therapien bisher 40,2 Millionen Lebensjahre hinzugewonnen.

Ein internationales Forscherteam hält aufgrund eigener Untersuchungen die UN-Zahlen allerdings für zu hoch. Wie es anlässlich der Welt-Aids-Konferenz in Melbourne berichtete, seien die Zahlen der Kranken und vorzeitigen Todesfälle durch das HI-Virus deutlich geringer. So gibt das Forscherteam für 2013 1,8 Millionen Neuinfektionen und 1,3 Millionen Aids-Tote an. Nach der auch im Fachjournal „Lancet“ veröffentlichten Studie sind durch medizinische Maßnahmen seit 1996 insgesamt 19,1 Millionen Lebensjahre gerettet worden – mit einem Kostenaufwand von 3327 Euro pro Lebensjahr.

Wissenslücken bei Jugendlichen

Der frühere US-Präsident Bill Clinton warnte auf der Konferenz allerdings davor, dass die reichen Länder – die „Geberländer“, wie er sagte – im Kampf gegen Aids weniger Geld ausgeben. Andererseits hätten die besonders betroffenen Länder ihre eigenen Anstrengungen deutlich erhöht. Die Clinton-Stiftung engagiert sich seit 2002 gegen Aids. Sie finanziert Gesundheitskampagnen und kümmert sich um die Versorgung infizierter Kinder und Mütter. Noch würden sich weltweit jeden Monat 20 000 Kinder mit dem Virus infizieren.

Nach wie vor sind Aufklärungskampagnen wichtige Bausteine im Kampf gegen Aids. So haben in stark betroffenen Ländern oft weniger als 40 Prozent der Jugendlichen ausreichendes Wissen über die Krankheit und die Möglichkeiten, wie sie sich vor einer Infektion schützen können. Aber auch in Deutschland berichten Ärzte immer wieder über erschreckende Wissenslücken bei Jugendlichen, etwa die Ansicht vieler junger Mädchen, dass die Pille vor HIV schütze. „Niemals ohne Kondom“ müsse auch heute noch der strikte Grundsatz beim Geschlechtsverkehr lauten. (Von Klaus Zintz)