Elfriede Rick überlebte als Kind die Vertreibung aus Ostpreußen. Die Angst von damals hat sie immer wieder eingeholt. Heute tritt sie als Zeitzeugin vor Schulklassen auf. Sie hat viel zu erzählen.Wir haben ihr zugehört.

Dresden - Elfriede Rick (82) wurde als Dreizehnjährige vertrieben. Sie überstand die Flucht, war als Diakonieschwester für andere da und fand eine neue Heimat in Dresden. Sie hat viel zu erzählen. Wir haben ihr zugehört: „Eigentlich wollte ich nie eigene Kinder haben. Aber dann, mit Anfang dreißig, hatte ich zwei Stiefkinder und lag mit meiner leiblichen Tochter in den Wehen. Kaum jemand konnte verstehen, was los war, als meine Renate endlich da war. Panik hatte ich, irrsinnige Angst um dieses winzige, schutzlose Wesen. Da waren sie wieder, die Bilder von der Flucht. Wie wir, meine Mutter, meine beiden kleinen Geschwister und ich von russischen Solda

 
Elfriede Rick heute Foto: privat
ten mit gezückten Gewehren durch die Kälte getrieben wurden. Wer nicht mehr konnte, Kinder, Alte, Schwangere, blieb am Wegrand zurück und ist erfroren. Am schlimmsten fand ich, wie die toten Säuglinge von den Soldaten mit einer Schippe Schnee zugedeckt wurden.

Dreizehn war ich, als am 19. Januar 1945 der Fluchtbefehl kam. Der Bürgermeister ging von Gehöft zu Gehöft und sagte, wir müssten so schnell wie möglich weg, die russische Front rücke näher. Nur das Nötigste packten wir: Futter für die Pferde, Kochtöpfe, Pelzdecken sowie unsere Papiere und ein paar Fotos. Es war chaotisch. Zu den vielen Menschen, die wie wir mit notdürftig zusammengezimmerten Wägen unterwegs waren, kam ja das deutsche Militär, das von der Front zurückgedrängt wurde. Acht Kilometer in drei Tagen, mehr haben wir nicht geschafft.

Nach einer knappen Woche wurden wir von den Russen eingeholt. Man vergisst so was nicht: wie wir an eine Stallwand gestellt wurden und wie meine kleine Schwester, als die Gewehre klickten, geschrien hat. Wie ein Tier. Ohne sie wären wir heute nicht mehr am Leben, da bin ich sicher. Den Wagen, die Pferde, sämtliche Papiere, alles hat man uns abgenommen. Acht Tage lang liefen wir bei Minusgraden gen Osten und wurden dann im Nirgendwo in geplünderten Häusern untergebracht. Auf dem Boden haben wir geschlafen, zu Dutzenden, wir aßen Suppe aus Mehl und Wasser. Immer wieder gab es Verhöre, meist nachts. Wer arbeitsfähig war, wurde nach Sibirien abtransportiert.

Einmal schien es auch bei uns so weit, Mutter sollte mit. Aber dann war die Laderampe des Lkw voll, und sie kam zurück.

Unwahrscheinliches Glück hatten wir, dass wir die gut drei Jahre als Familie zusammengeblieben sind. Auf Höfe verteilt und zu Arbeitseinsätzen für die sowjetische Kollektivwirtschaft wurden wir. Anfangs half ich, die mumifizierten deutschen Soldaten in Schützengräben zu schleifen. Später hab ich halb verhungert mit ebenfalls halb verhungerten Pferden Felder gepflügt. Einen halber Liter Malzkaffee am Morgen, mittags einen Liter Sauerkrautsuppe, abends ein Stück matschiges Brot: so viel bekam man – als Familie. Wir wären verhungert, wie so viele, hätten die Soldaten nicht ab und an ein Auge zugedrückt und uns zum Betteln vom Hof gelassen.

Die Familie wurde nach Sachsen verschickt

Im nahen Litauen würden die Menschen teilen, trotz eigener Armut, hörte man. Meiner Mutter muss es das Herz zerrissen haben beim Abschied. Sie hatte schlimme Beine und konnte nicht so weit gehen. Es musste ja auch jemand bei meinem jüngeren Bruder bleiben, der so schwach war vor Hunger, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Mutters festes Drücken spüre ich noch heute. Geschätzt 30 Kilometer liefen wir, meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich, querfeldein, bis zum ersten Ort. Wir hatten Glück und wurden unterwegs nicht vergewaltigt. Die Litauer ließen uns in ihren Stuben schlafen, obwohl wir stanken und Läuse hatten. Ein paar Brocken trockenes Brot trugen wir am anderen Tag in selbst genähten Rucksäcken zurück.

Ob ich nicht stolz gewesen sei auf meinen Einsatz als große Schwester, wurde ich mal gefragt. Aber für so etwas wie Stolz hatte ich gar keine Kraft. Ums nackte Überleben ist es gegangen. Und darum, mit der Angst zurechtzukommen, was wohl als Nächstes käme. Im April 1948 hieß es mitten in der Nacht: Alle raus! Auf fensterlose Viehwägen wurden wir geladen, in welche Richtung der Zug fuhr, war lange nicht klar. Bis die großen Schiebetüren der Wägen geöffnet wurden und wir die deutschen Bahnhofsschilder sahen. Ich erinnere mich an den Geruch des Läusepulvers, das ich auf einem Bahnsteig bei Berlin in die Kleidung gesprüht bekam. An den Geschmack der ersten paar Schlucke Kakao auf der Zunge. Nach drei Jahren wieder in einem frisch bezogenen Bett zu schlafen, wenn auch im Massenschlafsaal eines Krankenhauses – das war der Himmel.

Erst Kindermädchen, dann Diakonisse, dann Mutter

Unsere Familie wurde nach Sachsen verschickt, ich arbeitete bei einer Familie als Kindermädchen. Bis ich mit sechzehn über den örtlichen Pfarrer als Schwesternschülerin bei den Diakonissen in Dresden aufgenommen wurde. 14 Jahre lang hab ich verschiedene soziale Tätigkeiten ausgeführt. Das Bedürfnis, eine Familie oder Kinder zu haben, lag mir, wie gesagt, fern. Dann aber kam ich als Gemeindeschwester zu einer Familie, in der die Frau gestorben war. Zwei Jungs gab es, ,du kannst doch unsere Mutti werden‘, sagten sie. Und genau so ist es gekommen. Ein Jahr später kam meine Tochter zur Welt. Und die Ängste haben sich zum Glück dann gelegt.

Selbstmitleid macht krank, diese Überzeugung half mir, das Erlebte anzunehmen. Großartig, dass am Ende alles gut ausgegangen ist – auch so rum kann man es sehen. Nach der Wende bin ich ein paar Mal mit geführten Busreisen in die alte Heimat gefahren, die bis dahin ja militärisches Sperrgebiet war. Nur noch die Grundmauern zeugen vom Ort meiner Kindheit. Natürlich ist es bewegend, da zu stehen. Aber innerlich dort stehen zu bleiben, das kann es nicht sein. Statt wie andere zu träumen, wi

Elfriede Rick als Diakonisse Foto: privat
e es vielleicht ohne den Krieg weitergegangen wäre, bemühe ich mich, das Hier und Heute zu sehen. Das frisch bezogene Bett, wie gesagt. In einem Land, auf einem Kontinent, auf dem inzwischen wieder so viele über ,schlechte Zeiten‘ klagen.

,Sie bauchen das gar nicht zu erzählen‘, meinte der jüngste meiner acht Enkel, als im Geschichtsunterricht das Ende des Zweiten Weltkriegs besprochen wurde, er habe eine Oma, die habe das alles erlebt. So kam es, das ich vor der Klasse als Zeitzeugin berichten sollte. Und das hab ich danach noch viele weitere Male getan. Mucksmäuschenstill ist es jedes Mal im Klassenzimmer. Und wenn am Ende dieser Satz fällt, und der fällt eigentlich fast immer – ,uns geht’s eigentlich ganz schön gut‘ – dann weiß ich: sie war es wert, diese Stunde.“