15 Jahre nach dem WTO-Beitritt wird die EU China wohl offiziell als Marktwirtschaft anerkennen müssen. Das gefährdet viele Jobs. Bis Jahresende muss ein Ausweg gefunden werden.

Brüssel - Die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ aus dem Jahr 1957 waren prophetisch: Ganz bestimmt könne China ein „Land mit moderner Industrie, moderner Landwirtschaft und moderner Wissenschaft und Kultur aufbauen“. Es ist heute wirtschaftlich erfolgreicher, als es manchem globalem Konkurrenten lieb sein kann. Der Chef der Kommunistischen Partei, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Volksrepublik ausgerufen hatte, war sich auch in einem anderen Punkt sicher: „Das sozialistische System wird letzten Endes an die Stelle des kapitalistischen Systems treten.“ Ob er sich wohl in seinem Mausoleum an Pekings Tiananmen-Platz umdrehen würde, wenn er wüsste, dass seine Nachfolger alles daransetzen, offiziell als Marktwirtschaft anerkannt zu werden – von der EU?

 

Dass vom kommunistischen Erbe vor allem die volle Kontrolle aller Bereiche des öffentlichen Lebens geblieben ist, in Chinas Wirtschaft jedoch Privateigentum geschützt und knallhartes Profitstreben praktiziert wird, beschäftigt Wissenschaftler schon lange. Sie haben für Chinas aktuellen Aggregatzustand den Begriff vom autoritären Staatskapitalismus geprägt. Nun aber muss aus der polittheoretischen Frage bis Ende dieses Jahres eine Entscheidung mit ganz praktischen Konsequenzen werden.

Auf mehr als 50 Produkte werden Zölle erhoben

Hintergrund ist Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO am 11. Dezember 2001. Damals wurde China als „Nicht-Marktwirtschaft“ eingestuft – ein Status, der es unter anderem der Europäischen Union erlaubt, chinesische Importgüter mit Antidumping-Schutzzöllen zu belegen. Schließlich findet in einem Land ohne Marktwirtschaft keine Preisbildung nach den Gesetzen des Marktes statt, weshalb Waren weit unter Weltmarktpreis auf eben jenem Weltmarkt landen und den Wettbewerb verzerren können.

Insgesamt mehr als 50 Produkte aus dem Reich der Mitte hat die EU derzeit mit solchen Einfuhrzöllen belegt. Damit jedoch könnte bald Schluss sein. In Artikel 15 des WTO-Beitrittsvertrages wurde den Chinesen zugesagt, dass sie spätestens nach 15 Jahren handelspolitisch wie eine Marktwirtschaft behandelt und die Abwehrmaßnahmen auslaufen werden – also am 11. Dezember. Bis dahin müssen auch die Europäer ihren entsprechenden Rechtstext ändern.

Richtig in Fahrt gekommen ist die Brüsseler Debatte darüber mit einer Studie der gewerkschaftsnahen Washingtoner Denkfabrik Economic Policy Institute, die der EU ohne Antidumping-Zölle einen gewaltigen Verlust von 1,7 bis 3,5 Millionen Arbeitsplätzen prophezeit. „Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen“, sagt dazu der Grüne Reinhard Bütikofer, der im Europaparlament der China-Delegation angehört, „aber dass es ein Problem gibt, kann man schwer bestreiten“.

Während die Brüsseler Handelsjuristen schlicht die Umsetzung des Vertrages vorbereiteten, sei dies, so Bütikofer, „politisch undenkbar: Man stelle sich nur vor, die Rechtsextremistin Marine Le Pen kann nächstes Jahr in den französischen Präsidentschaftswahlkampf mit der Parole ziehen, dass die EU Zehntausende Jobs verschenkt hat.“

Die EU hat eine Studie in Auftrag gegeben

Die Aufhebung der Schutzzölle fiele zudem in eine Zeit, in der die chinesischen Exporteure besonders aggressiv auf den europäischen Markt drängen. Erst vor zwei Jahren etwa wurden deshalb Zölle auf Solarpanele erhoben, und im Stahlsektor hat Peking einen Teil seiner Überkapazitäten in Großbritannien abgeladen, wo die Verdoppelung der Importmenge innerhalb nur eines Jahres mehrere Unternehmen in den Ruin getrieben hat.

Den Ernst der Lage hat vorvergangene Woche auch die EU-Kommission erkannt, die in der Handelspolitik die Verhandlungen im Namen der EU-Staaten führt. Beschlossen wurde, eine Studie zur Abschätzung der Folgen in Auftrag zu geben. „Wir analysieren sehr genau die wirtschaftlichen Auswirkungen, bevor wir eine Position einnehmen“, heißt es in der Behörde: „Alle relevanten Fakten müssen auf den Tisch.“ Dabei gehe es auch um „mögliche Maßnahmen, die die Folgen einer Entscheidung abmildern“ könnten. Im Sommer, so Kommissionsvize Frans Timmermans, „kommen wir auf das Thema zurück“.

Die EU mag den Rechtstext nicht einfach anpassen

Längst jedoch wird in Brüssel fieberhaft überlegt, wie sich die EU aus der Zwangslage befreien kann, in die das Datum im WTO-Vertrag sie gebracht hat. Die meisten Akteure sind sich einig, dass es weder einfach umgesetzt noch einfach ignoriert werden sollte. Nicht nur, dass der britische Premier David Cameron der chinesischen Führung den Status bereits in die Hand versprochen hat und Bundeskanzlerin Angela Merkel Ähnliches angedeutet hat. Intern haben die Chinesen EU-Diplomaten zufolge sehr deutlich gemacht, dass sie die Gemeinschaft vor der WTO verklagen würden, sollte sie ihren entsprechenden Rechtstext nicht ändern. „Europa hätte unter einem möglichen Handelskrieg viel mehr zu leiden als etwa die USA“, meint Bütikofer, denn in Washington, das seine Abwehrinstrumente ebenfalls nicht aufgeben will, gibt es keine ins Gesetz geschriebene „Nicht-Marktwirtschafts-Passage“, sondern nur Einzelfallentscheidungen.

Was also tun? „Es muss einen gleichwertigen Ersatz für die Antidumping-Zölle geben“, fordert der SPD-Abgeordnete Jo Leinen, Vorsitzender der China-Delegation. Alternativ könne Peking der Status gewährt werden, heikle Branchen wie Stahl, Textilien oder Keramik jedoch ausgenommen bleiben – wie es Australien unwidersprochen schon vor zehn Jahren gemacht hat: „Den Chinesen geht es vor allem um das Prestige.“ Eine weitere Idee sieht vor, die Antidumping-Maßnahmen aus dem Gesetz zu streichen und damit WTO-konform zu machen, dafür aber der EU-Kommission weit reichende exekutive Freiheiten zur Verhängung anderer Abwehrmaßnahmen einzuräumen. Seit zwei Jahren liegt ein ähnlich gelagerter Kommissionsvorschlag für modernere Handelsinstrumente auf dem Tisch, der aber von den EU-Regierungen blockiert wird.

Wie sagte schon Mao Tse-tung: „Der Klassenkampf ist noch nicht zu Ende.“