Werner Johst stand mit Gustl Bayrhammer, Eva Pflug und Harald Juhnke auf der Bühne, machte Kabarett und gründete Theater. Nun feiert er seinen 85. Geburtstag.

Stuttgart - Da steht er, mutterseelenallein im Scheinwerferlicht, ohne Kostüm und Requisiten, spricht kein Wort und füllt doch einen ganzen Saal mit seiner Aura. Sie umweht einen wie der Sturm im „Zauberer von Oz“, der das kleine Mädchen Dorothy erfasst und fortträgt in ein magisches Land. Auf einen solchen Flug in andere Welten nimmt einen auch Werner Johst mit, wenn er aus dem Stegreif Figuren schafft, sie mit Leben erfüllt, vorführt, was er ist, ein Bühnenschauspieler mit Herz und Seele. „Ich wollte nie etwas anderes werden“, sagt er.

 

Seit 70 Jahren steht Werner Johst nun schon auf jenen Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, was in seinem Fall aber zweifellos zutreffend ist. Davon zeugt nicht nur die Sammlung an alten Textbüchern, Fotos aus schwarz-weißen Zeiten, Manuskripten, Plakaten, Programmheften und Dankschreiben, die in seiner kleinen Wohnung am Rande des Schlossgartens einigen Platz beanspruchen. Davon erzählen besonders die vielen Charakterrollen, Monologe und sonstigen Darbietungen aus den vergangenen Jahrzehnten, die er allesamt noch so beherrscht, als ob er sie erst gestern noch aufgeführt hätte. Von Goethes „Faust“ angefangen über Molières „Menschenfeind“ bis hin zum Märchendrama „Die versunkene Glocke“ von Gerhart Hauptmann, in dem er in den 50er Jahren an den Süddeutschen Schauspielen in Gammertingen den bocksbeinigen Waldschrat gegeben hat: „Hey, wie sie sprang und im Springen klang. Von Feld zu Fels, ein einziger Ball, mit Klang, Schall und Widerhall. Tief unten empfing sie aufspritzende Flut. Dort mag sie bleiben, dort ruht sie gut.“

Weil es draußen warm ist, gibt es drinnen kühles Apfelschorle, die der Hausherr auf dem Diwan serviert. Werner Johst selbst trinkt nichts, dafür sprudeln aus ihm die Erinnerungen. 70 Jahre Bühnenerfahrung, wer kann das schon von sich sagen. Viele leben längst nicht mehr, mit denen er einst auf den bedeutendsten Bühnen der Republik stand: Karl Schönböck etwa, Eva Pflug, die große Lilian Harvey, Hans Clarin, Gustl Bayrhammer, Brigitte Mira, der unvergessliche Harald Juhnke. „Das waren tolle Schauspieler und unglaublich schöne Zeiten“, sagt Werner Johst.

Ein Geburtstagsstück

Er selbst macht unermüdlich noch immer Theater, mitunter als Schauspieler in kleinen Rollen, dazu regelmäßig als Regisseur im Stuttgarter Komödle und bei den Stuttgarter Strolchen, einem Laienensemble, das seit einigen Jahren im Theaterwirtshaus Friedenau vor einem treuen Stammpublikum spielt. „Es macht ungeheuren Spaß, ein Stück zu entwickeln, das auch funktioniert“, sagt Johst, der am Freitag seinen 85. Geburtstag feiert – natürlich auf seiner Bühne. Auf dem Programm steht eine Premiere: „Happy Birthday alte Schachtel“ lautet passenderweise der Titel des Stücks, einer rasanten Verwechslungskomödie mit einer betagten Jubilarin, in der Johst wieder einmal Regie geführt hat. Weitere Überraschungen sind an diesem Abend nicht ausgeschlossen.

1929 in Danzig geboren, hat Johst die Leidenschaft für die Bühnenwelt schon früh in sich gespürt. Tante Agathe war Schauspielerin, Onkel Fritz ein formidabler Opernsänger, der in Hamburg engagiert war. Das Leben – eine Bühne. Die Schulnoten seien ihm nicht so wichtig, erklärte der Schüler Johst seinerzeit dem Lehrer, seine Gagen könne er schon noch zusammenzählen.

Noch heute kann er sich genau an seinen ersten Auftritt erinnern, an den 1. April 1943, an dem der Schüler am Städtetheater Danzig in „Schneewittchen“ einen der zipfelmützigen Zwerge spielen durfte. Wenig später trat er auch noch in einem Wiener Singspiel auf, dessen Texte und Melodien er jederzeit hervorholen kann. „Als ob es gestern gewesen wäre“, sagt er und lässt sich nicht lange bitten. „Seit dieser Zeit wusste ich, dass Theater das Richtige für mich ist“, sagt er hinterher.

Eine Komödie im Krieg

Zunächst landete der junge Mann allerdings in einem dänischen Internierungslager, in das er in den Kriegswirren nach der Vertreibung aus Danzig mit der Familie geflohen war. Eine bleierne Zeit, an die er sich vor allem eine bunte Erinnerung bewahrt hat: Die Aufführung einer Komödie zusammen mit anderen Lagerflüchtlingen, in der er einen pedantisch-komischen Lehrer spielte. Zwei lange und oft trostlose Jahre verbrachte Johst im Lager Skovby, bis es eines Tages schließlich hieß: „Sie kommen nach Württemberg.“ Die Wahl fiel dabei auf das Städtchen Tübingen, das Erste, was Werner Johst in seiner neuen Heimat im Schwabenland suchte, war – ein Theater.

Um die Schauspielschule bezahlen zu können, an der seinerzeit kaum ein Weg vorbeiführte, wurde er vom Intendanten Paul Rose am Städtischen Schauspielhaus Tübingen/Reutlingen als Bürobote angestellt, was ihm 75 Reichsmark im Monat einbrachte. „Herr Werner Johst wird zur Bedienung des Telefons und zu Botengängen sowie zusätzlich zur Büroarbeit verpflichtet“, steht in dem Arbeitsvertrag, den er seinerzeit nur bekommen hatte, weil der Intendant vom besonderen Talent des jungen Eleven überzeugt war.

Drei Jahre lang dauerte die Ausbildung, zu der seinerzeit unter anderem eine tägliche Übungsstunde in Fonetik gehörte, also Sprechtraining, weshalb man noch heute jedes seiner Worte bis in die letzte Zuschauerreihe hört, ob geflüstert oder gebrüllt. Dazu wurde der Schauspielschüler auch in technischen Disziplinen wie Garderobe, Bühnenbau, Inspektion und Maske unterrichtet. „Damals hat man Theater von der Pike auf gelernt“, sagt Johst.

Er entdeckt das Kabarett

Seine Abschlussprüfung am Staatstheater Stuttgart, ohne die man seinerzeit kaum ein Engagement bekommen hätte, hat er zusammen mit Rosemarie Fendel und einem schneidigen Schlacks namens Horst Tappert gemacht. „Sie wissen schon, der Derrick“, sagt Johst. Dass er selbst es nicht zu solcher Bekanntheit gebracht hat wie ein Tappert oder ein Juhnke, mit dem er an der Münchner Komödie unter der Regie von Erik Ode spielte, dem späteren „Kommissar“, grämt ihn nicht weiter. „Ich bin meinen eigenen Weg gegangen“, sagt er. Sich für ein Viertel seiner Gage von einer Theateragentur unter Vertrag nehmen zu lassen ist nie seine Sache gewesen. Um seine Gastspiele in den Theatern der Republik kümmerte er sich daher selber, für hundert Mark pro Auftritt hat er gespielt.

„Ihr wisst, auf unseren deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag!“ Frei nach Goethe drängte es Werner Johst, der auf der Schauspielschule vor allem Klassiker einstudiert hatte, nach der Ausbildung und ersten Engagements am Theater zunehmend ins „komische Fach“, wie er es nennt. Er entdeckte das Kabarett für sich – und das Kabarett entdeckte ihn. Fast keine bekannte Bühne, auf der er nicht spielte: der Spottvogel in Karlsruhe, die Zwiebel in München, die Stachelschweine in Berlin, die Komödie in Düsseldorf, die Schiedsrichter in Hamburg, das Renitenztheater in Stuttgart und, und, und  . . .

Sieben Jahre lang war Johst auf Kabarett-Tournee, was wohl viel mit seiner Art zu tun hatte, Theater zu spielen. Damals sei es noch nicht üblich gewesen, die Zuschauer im Theater direkt von der Bühne aus anzuschauen und anzusprechen, wonach es ihn indessen drängte. „Ich habe für das klassische Theater immer zu sehr ins Publikum gespielt“, sagt Johst, der unmittelbaren Kontakt zu den Zuschauern noch heute liebt, die ihm meist wohlgesinnt waren – wie die Kritiker auch. „Werner Johst als jüngerer Bruder Mick faszinierte durch eine Halbstarken-Studie, die nichts an Farbe schuldig blieb: weder das zuckende Spiel der Kaumuskeln noch den lautlosen, katzenhaften Sprung in die Drohgebärde noch das Abgleiten ins dumpfe Phlegma“, schrieb etwa der StZ-Rezensent Ruprecht Skasa-Weiß über ihn.

Klassiker im Kindertheater

Vor einigen Jahren hat Johst zufällig seine Schauspielkollegin Rosemarie Fendel auf der Stuttgarter Königstraße getroffen, worüber sich beide über die Maßen gefreut haben. Beim gemeinsamen Reminiszieren erzählte sie dann lachend und mit Tränen in den Augen, wie Johst als Regieassistent einst einige Schauspielerinnen in Schwesterntracht während einer Probe angewiesen habe: „Die Nonnen müssen durch das Tor kommen, und dann gehen sie hier auf den Strich.“ Gemeint war natürlich die Kreidemarkierung auf dem Bühnenboden, was den kichernden Nonnen aber egal war. Lange her wie vieles andere in seinem ach so reichen Bühnenlebenslauf.

Nicht zu vergessen das Tübinger Zimmertheater, das er 1958 zusammen mit seinem Bruder Heinz E. Johst und Tom Witkowski gründete. Nicht zu vergessen die Naturtheater in Reutlingen und Renningen, deren künstlerischer Leiter Johst über Jahrzehnte war. Nicht zu vergessen das Theater der Altstadt und das Rebstöckle in Heslach, wo er viele Jahre gespielt hat. Und nicht zu vergessen das Stuttgarter Volkstheater, eine schwäbische Mundartbühne, die er 1979 gründete und aus der das Stuttgarter Komödle hervorging, eine Amateurtheatertruppe, für die er ebenfalls Regie führt und nebenbei die Schauspieler in diesem und jenem unterrichtet.

Die schaurige Knusperhäuschen-Hexe

Besonders hängt sein Herz an den Stuttgarter Strolchen, für die Johst sogar noch den Kulissenschieber gibt und sich um das Bühnenbild kümmert. „Das mussten wir früher auch alles selber machen.“ Vor einigen Jahren ist er vom Landesverband der Amateurtheater Baden-Württemberg für sein Engagement unter anderem mit der Ehrenmedaille ausgezeichnet worden.

Ein noch größerer Ansporn ist ihm derweil, wenn ihm ein sehr junges Publikum begeisterten Applaus spendet. Im Kindertheater ist Johst sozusagen wieder bei den Klassikern angelangt: „Pippi Langstrumpf“ hat er mit seiner Truppe schon aufgeführt, „Das Dschungelbuch“, den „Räuber Hotzenplotz“, „Pettersson und Findus“, das Grimm’sche Märchen „Hänsel und Gretel“. Die schaurige Knusperhäuschen-Hexe spielte Werner Johst selbst, und das derart überzeugend, dass er in den Vorstellungen nach der Premiere darauf verzichtete, hinab in den Theatersaal zum Publikum zu steigen. Die Zuschauer hatten sich bei diesem Auftritt ordentlich gegruselt – und beileibe nicht nur die Kinder.