Mit der Organisation „Breaking the Silence“ will der Veteran Yehuda Shaul Israels Bürger die Verbrechen der Armee vor Augen führen. Eine Fotoausstellung und ein Buch sollen auch die Deutschen aufklären.

Hebron - Zwei Männer plaudern freundlich miteinander vor einem Souvenirladen. Der eine ist bärtig und korpulent. Er trägt eine kleine dunkelblaue Kopfbedeckung, eine modische Brille und eine schwarze Windjacke. Yehuda Shaul spricht selbstbewusst. Sein Gesprächspartner ist ein schmächtiger Mann mit einem kurzen Bart und kurzen Haaren. Er trägt ein anthrazitfarbenes Sakko, einen grauen Pulli und dunkelblaue Hose. Abed Abadin wirkt nachdenklich. Dieser Plausch zwischen einem Israeli und einem Palästinenser ist sehr ungewöhnlich. Denn er findet in Hebron statt. In dieser einzigen geteilten Stadt im Westjordanland plaudern Israelis und Palästinenser nicht miteinander: Entweder ignorieren sie sich, beschimpfen sich oder aber erteilen die Israelis Befehle, die die Palästinenser befolgen. Das Sagen in der Stadt haben eigentlich die 850 radikalen jüdischen Siedler, die von 650 Frontsoldaten vor den 175 000 Palästinensern beschützt werden. Yehuda Shaul will darüber nicht länger schweigen.

 

Der Ex-Soldat Shaul gründete die Organisation Breaking the Silence („Das Schweigen brechen“) jedoch nicht, um mit Palästinensern zu reden. Er wollte Israelis über den moralischen Preis der Besatzung informieren. Eine Fotoausstellung in Berlin und ein neues Buch sollen auch Deutschen die Augen öffnen.

Yehuda Shaul war einst einer dieser Soldaten, die schwer bewaffnet durch Hebron patrouillierten. Aber allmächtig waren diese jungen Männer keinesfalls, wie er bald feststellen musste. „Laut Befehl war es uns strikt verboten einzuschreiten, wenn ein (jüdischer) Siedler einen Palästinenser überfiel. Wir durften lediglich die Kommandantur informieren, die wiederum die israelische Polizei anrief. Wenn aber ein Palästinenser einen Siedler attackierte, mussten wir sofort reagieren. Diese Sache ärgerte mich wahnsinnig.“

Jede Nacht wurde auf die Siedler geschossen

Als Shaul 2003 in Hebron stationiert wurde, wütete bereits die zweite Intifada blutiger als anderswo im Westjordanland. Mittlerweile herrscht angespannte Ruhe in der Stadt, so dass der 29-jährige Veteran eine Gruppe Interessierter unbewaffnet durch die Altstadt führen kann. Shaul ist kein Touristenführer, sondern berichtet zusammen mit anderen Veteranen über Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser, vor allem in Hebron, auch die eigenen. Die Gruppe stoppt vor einem kleinen muslimischen Friedhof. Auf dem Hügel dahinter erstreckt sich ein palästinensisches Quartier. Den Gipfel beherrscht ein Militärstützpunkt mit einem großen Wachturm. Shaul erinnert sich an seine erste Basis in Hebron, den „Schulposten“, eine alte palästinensische Schule.

„Die Siedler in Hebron leben im Tal, die Palästinenser auch auf den umliegenden Hügeln. Von dort aus schossen sie jede Nacht auf die Siedler. Das Militär hatte keine Ahnung, woher sie schossen, aber reagieren musste man. Also übernahmen wir drei Kontrollpunkte über der Stadt. Jede von ihnen erhielt als Ziel 10 bis 15 Häuser im palästinensischen Stadtteil auf der anderen Seite des Tals. Ich wurde an einem Maschinengewehr ausgebildet, dessen Reichweite zwei Kilometer betrug. Mein Kommandant zeigte mir die Häuser und sagte, wenn die Palästinenser schießen, dann schießen wir zurück. Ich antwortete: ‚Bist du wahnsinnig? Das tue ich auf keinen Fall!‘ Mit einem Maschinengewehr mitten in eine bewohnte Stadt! Er sagte mir, ich werde ohnehin das Ziel kaum treffen, dies sei aber gar nicht wichtig.“

Um sechs Uhr abends wurde es dunkel, die Palästinenser schossen auf die Siedlung, Shaul erhielt den Schießbefehl. „Ich ging zum Maschinengewehr und richtete es auf das Ziel, zog den Abzug nur kurz. Ich betete, dass ich niemanden treffe. Dann schenkte ich es ein wenig und schoss wieder. Am zweiten Tag war ich weniger aufgeregt, und nach einer Woche wurde das Schießen der Höhepunkt meines Tages.“

Nächste Station der Führung ist der Gross-Platz gegenüber dem Großmarkt, benannt nach einem ermordeten jungen Israeli. Ein Hund wärmt sich in der Sonne mitten auf der menschenleeren Straße. „Als Rache für die Erschießung eines jüdischen Babys 2001 verwüsteten die Siedler den Markt. Dann kam die Armee und deklarierte ihn zum Militärsperrgebiet. Ein Jahr später wurde ein Siedler hier erstochen. Daraufhin eröffnete die Armee diese Straße wieder, aber nur noch für Siedler.“ Zu Beginn seines Militärdienstes sah Shaul hier, wie Siedler ihr  Gebet unterbrachen, um zwei palästinensische Jungen zusammenzuschlagen. „Wir setzten die Palästinenser auf den Boden und stellten uns schützend vor ihnen auf, während die Siedler weiterhin schlugen; auch wir bekamen Fausthiebe ab. Bis die Polizei kam, stiegen die Siedler ins Auto und fuhren los. Die Polizisten blieben untätig.“

Bei den Einsätzen läuft Grundsätzliches falsch

Drei Monate vor dem Ende seines Militärdienstes begann Shaul wieder, wie ein Zivilist zu denken. „Plötzlich konnte ich fast alle meiner Aktionen in Uniform nicht mehr rechtfertigen.“ Ihm wurde klar, dass bei den Einsätzen etwas grundsätzlich falsch läuft. Er musste unbedingt etwas dagegen tun. „Ich wandte mich in meiner Not an die Kameraden, und sehr schnell erkannte ich, dass wir alle gleich dachten. Uns alle schockierte die Erkenntnis, dass die Israelis keine Ahnung von unseren Erfahrungen in Hebron haben.“ Die frischen Veteranen beschlossen, eine Organisation zu gründen und die Israelis, „in deren Namen wir in den besetzten Gebieten unseren Dienst leisteten, einen Spiegel vorzuhalten. Sie sollten den Preis der Besatzung sehen.“

Nach ihrer Entlassung eröffneten die Veteranen am 2004 die Ausstellung „Wir bringen Hebron nach Tel Aviv“ mit Fotos und Videoaussagen von 65 Soldaten aus ihrer Einheit. Im Laufe des Monats kamen 7000 Besucher. „Das Wichtigste war, dass manche Besucher unsere Erfahrungen teilten. Auch sie waren junge Veteranen und erzählten uns, dass sie gleiche Erfahrungen in Nablus oder Ramallah gemacht hatten. Wir öffneten eine Büchse der Pandora.“

Einen Monat später wurden sie eingeladen, die Ausstellung im israelischen Parlament zu präsentieren. Doch die Armee war schneller. Sie schickte Ermittler, beschlagnahmte Gegenstände aus der Ausstellung und lud vier Organisatoren zum Verhör ein.

„Die Schuld liegt nicht bei den Soldaten“

Shaul wurde neun Stunden lang verhört. „Ich hatte das Recht zu schweigen, um mich nicht selbst zu belasten, aber stattdessen legte ich einen Teil meiner Verbrechen dar; nicht alle, denn dafür reichte die Zeit nicht. Ich nahm zum Beispiel Palästinenser als menschliche Schutzschilde, zerstörte Autos mit dem Panzer. Ich wünschte mir, sie würden mich vor Gericht stellen. Doch das unterließen sie, weil sie sonst auch den Brigadekommandanten verklagen müssten, der die Befehle gegeben hatte. Ich hatte niemals einen Palästinenser geschlagen, niemals Privatbesitz geplündert. Ich habe gegen keinen Befehl verstoßen. Die Schuld liegt nicht bei den Soldaten in Hebron, sondern liegt in der politischen Mission begründet, die sie ausführen müssen. Wir möchten daher nicht Soldaten wegen Menschenrechtsverletzung zur Verantwortung ziehen. Wenn man jeden Soldaten, der einen unschuldigen Palästinenser misshandelte, einsperren würde, dann säße meine ganze Generation hinter Gittern. Alle Soldaten in den besetzten Gebieten haben ihre Hände befleckt.“

Bis heute sammelten Shaul und seine Freunde 3000 Zeugenaussagen über Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten – auf Video und Audio. Um den guten Ruf der Organisation, die nicht zu den beliebtesten in Israel zählt, zu verteidigen, überprüfen Shaul, seine zwölf Mitarbeiter und 40 Freiwillige die Zeugenaussagen penibel. „Unsere Zeugen kommen über andere Zeugen, die bei uns schon aussagten. So wissen wir gleich um die Identität des Zeugens, wo er wann gedient hat und mit welchem Dienstgrad. Zudem werden alle Interviews durch ehemalige Soldaten geführt, die bei uns schon ausgesagt haben. Die können sofort erkennen, ob der Befragte sie reinlegt. Drittens ignorieren wir Aussagen, die man nicht überprüfen kann. Bei jeder Aussage fordern wir die Bestätigung durch zwei Zeugen, den der Interviewpartner uns liefert. Andernfalls veröffentlichen wir es nicht.“

Bis heute haben über 850 Israelis ausgesagt, alle leisteten ihren Wehrdienst nach Beginn der zweiten Intifada im September 2000, sind also im Alter zwischen 18 und 30. Ihre Aussagen erscheinen in Broschüren, auf der Website der Organisation und in den Medien. Zudem organisiert „Breaking“ Vorträge, vor allem für junge Israelis vor der Einberufung, sowie Führungen, zum Beispiel nach Hebron. Die Ausstellung mit Fotos, die sie in den besetzten Gebieten knipsten, ist bis 29. 9. in Berlin zu sehen.

„Jeder Zeuge könnte im Gefängnis landen“

Das Militär kritisiert, dass viele Aussagen anonym und daher nicht überprüfbar seien. Shaul erklärt, dass fast alle Zeugenaussagen Verbrechen nach dem israelischen Gesetz beschreiben. „Jeder Zeuge könnte daher im Gefängnis landen. Ein Soldat, der noch im Dienst ist, darf mit uns überhaupt nicht sprechen und könnte allein dafür hinter Gittern enden. Deswegen werden fast alle von uns veröffentlichten Aussagen anonymisiert. Zudem wollen wir den Druck der Einheit oder Familie auf den Zeugen verhindern. Man darf laut Gesetz etwas unterlassen, um dadurch sich selbst nicht zu belasten. Wir sehen uns als Journalisten mit dem Recht auf Quellenschutz.“ Rund 60 Ex-Soldaten haben sich bereits geoutet.

Als Shaul in der Shuhada-Straße erklärt, warum auch die palästinensischen Bewohner des Hauses gegenüber diese Straße nicht betreten dürfen, wird er von zwei jüdischen Siedlerkindern beschimpft. Shaul ignoriert das. Er hatte dreieinhalb Jahre die Störungen der einheimischen Siedler ertragen müssen, bis er vor Gericht die Sicherheitskräfte in Hebron zwingen konnte, solche Führungen zu schützen.

Die Führung der Organisation endet am Grab der Patriarchen Abraham, Isaak, Jakob und ihrer Frauen. „Unsere jüdischen Wurzeln sind in Hebron, nicht in Tel Aviv“, sagt Shaul. „Ich möchte aber auf jeden Fall in einer Demokratie leben. Ich bin zwar orthodox in meinem Glauben, aber ich lebe mit humanistischen und demokratischen Werten. Was wir hier in Hebron tun, ist sicherlich nicht jüdisch.“ Yehuda Shaul ist sicher, dass er ein Ende der Besatzung erleben werde. Bis dahin müsse er weitermachen. Sein Arbeitstag beginnt um sieben Uhr morgens und endet um Mitternacht. „Aber ich tue es gern, weil ich so mit dem Gefühl ins Bett gehe, dass ich meinem Glauben folge. Dies ist ein großes Geschenk, das nur wenigen zuteilwird.“