Was soll aus der Villa Berg werden? Seit Langem wird ergebnislos über das Stuttgarter Denkmal diskutiert. Eine genaue Untersuchung der Baugeschichte könnte den Meinungsstreit voranbringen, meint der Architekturprofessor Horst Sondermann.

Stuttgart - Die Debatte über die Zukunft der Stuttgarter Villa Berg stagniert. Eine Rekonstruktion kann nicht diskutiert werden, weil der denkmalgeschützte Gutbrod-Bau und Leins’ verschwundene Nordflügel sich im Weg stehen. Ein ähnlich unlösbarer Konflikt besteht zwischen dem historischen Villen-Raumgefüge und eingebautem Sendesaal. Man vermisst Kriterien, mit denen die beteiligten Bauwerke bewertet und Entscheidungen über Rekonstruktion, Sanierung oder Abriss getroffen werden können.

 

Die Villa selbst genießt noch die größte Wertschätzung, ist sie doch alt; sie wird von Kunstwissenschaftlern gelobt und war mal ein Schloss. Doch das akademische Lob schafft leider auch Distanz zu diesem Bauwerk, das als Vorläufer der Moderne gelten kann, sowohl als frühes Beispiel des bürgerlichen Villenbaus in Deutschland als auch mit seiner Architektur selbst.

Zur Erinnerung: Kronprinz Karl Friedrich von Württemberg hatte 1844, gerade 21 Jahre alt, die Idee zu diesem Landsitz. Sein Privatsekretär Hackländer fand das Grundstück, der Architekt Christian Friedrich von Leins machte Planungen, die Zarentochter Olga Nikolajewna half ab 1846, nach der Heirat mit Karl, dem Projekt mit ihrer Mitgift auf die Beine. 1853 war die Villa fertig; 1864 endlich wurden die fürstlichen Bauherren König und Königin von Württemberg, für immerhin fast dreißig Jahre. Bereits 1913, erst sechzig Jahre alt, kam die Villa Berg zum ersten Mal in Stuttgarter Besitz, nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie für eine Gemäldegalerie ausgeräumt und renoviert.

Ein prominenter Prototyp des bürgerlichen Villenbaus

Fast hundert Jahre nach Fertigstellung des Sommersitzes, 1951, baute man einen Sendesaal in den Torso, der nach Krieg und Abbruch von der Villa übrig geblieben war. Turmaufsätze und Nordflügel riss man ab, die stehen gebliebene Fassade wurde Kulisse. Auch dieser Sendesaal, über vierzig Jahre in Gebrauch, ist nun perdu – ungenutzt und baufällig verfällt er seit Jahren. Was auch immer: eine Villa ist das Gebäude seit Kriegsende nicht mehr.

Dabei war der Bau zu seiner Zeit berühmt, mit Schinkels Schloss Charlottenhof (Potsdam, 1829) und Sempers Villa Rosa (Dresden, 1839) gehört er zu den frühen und prominenten Prototypen des bürgerlichen Villenbaus. Erst im 19. Jahrhundert nämlich emanzipiert sich in Deutschland ein solventes Bürgertum und schafft sich in humanistischer Bautradition jene repräsentativen und komfortablen Wohnsitze, die durch Anlage und Fassadennarrativ Auskunft über Status, Bildungsstand und Bonität geben – und denen seinerseits der Adel nacheifert. Diese neue Sparte der Baukultur macht sich auch städtebaulich bemerkbar (Stuttgarter Halbhöhe) und reicht weit in die Moderne hinein. Beispiele sind Schloss Cecilienhof, Haus Werner, Villa Savoye, der Kanzlerpavillon, R 128.

DieFassaden weisen in alle vier Himmelsrichtungen

Zwar entstand die Villa Berg in fürstlichem Auftrag, und von bürgerlichem Maßstab kann weder bei Haus noch Park die Rede sein, jedenfalls aus heutiger Perspektive. Und doch, als Kronprinz Karl 1844 den 31-jährigen Christian Friedrich von Leins mit der Planung beauftragt, wünscht er sich ein „hübsches Landhaus, in edlen Formen, mit bequemen Räumen, schöner Aussicht“ und eben „kein Schloss wie den Rosenstein, auch keine unwohnlichen Räume wie die  . . .Wilhelma“ (die zu der Zeit gerade fertig gestellt wurde). Die Gestalt der Villa, so zeigen Leins’ Zeichnungen, stand schnell fest: kubisch gegliedert, mit ihren Fassaden gleichmäßig in alle vier Himmelsrichtungen weisend, die Ecken turmhaft ausgebildet – ein symmetrisch gegliederter Zentralbau scheinbar, ähnlich Palladios Villa Rotonda und Sempers Villa Rosa.

Bei genauer Betrachtung zeigen sich jedoch deutliche Abweichungen vom klassischen Kanon, vor allem in der Eingangslösung. Auf der Suche nach einem zentralen Zugang wird man mehrfach in die Irre geführt: Die Südterrasse liegt am Speisesaal, die Westterrasse am Ballsaal – trotz aller Pracht der Treppen und Rampen also eher Aus- als Eingänge. Die Front des Hofs, den der Hauptbau mit den heute verschwundenen Nordflügeln bildet, beherbergt im Erdgeschoss die Küche mit ihren Nebenräumen, dort, wo man ebenfalls einen repräsentativen Zugang erwarten könnte.

Das Vestibül ist von filigraner Glaskonstruktion überdacht

Dabei gibt es durchaus eine schöne, einladende Treppe, nur liegt sie abseits, im östlichen Nordflügel, was zur Folge hat, dass man das Lustschloss an seiner nordöstlichen Ecke betritt. Dieser neuartige, ungewöhnliche Eckeingang der Villa ergibt sich aus der Gesamterschließung der Villenanlage. Die breiteste Zufahrt zur Villa, die sogenannte Platanenallee, heute ver-schwunden, führte zentral auf den östlichen Nordflügel. Leins hat hier, über dem Durchfahrtsportal, einen steinernen Pavillon mit Tempelfront gebaut, dem Motiv, das Palladio für einen ordentlichen Villeneingang verlangt. Hier nun liegt, ganz logisch, auch der Haupteingang zur Villa.

Man entsteigt unter Dach seiner Karosse und nimmt linker Hand die Treppe hinauf zum Vestibül, die, von filigraner Glaskonstruktion überdacht, ein architektonischer Parcours ganz neuer Art ist – nicht mehr außen, noch nicht innen, ist durch das Walzglasdach schon die Villa zu sehen, die man gleich betreten wird, durch eine imposante Arkadenstellung, die es nur hier gibt.

Das ist wirklich modern gedacht: Die Villa, weit außerhalb der Stadt in einem geräumigen Park gelegen, lässt sich nur per Fahrzeug erreichen, und das geht hier mit einem Maximum an Komfort einher, man betritt das Anwesen sozusagen durch die Garage. Dass Leins diesen scheinbaren Seiteneingang ernst gemeint hat, steht in seiner 1889 erschienenen Schrift „Die Hoflager und Landsitze des württembergischen Regentenhauses“. Da ist er 75 Jahre alt, die Villa Berg schon 36 Jahre fertig gestellt (und auf der Pariser Weltausstellung wird der erste Motorwagen von Maybach präsentiert): „Der Eingang von der Anfahrt her liegt . . . an der nordöstlichen Ecke. Auf der Ostseite . . . gelangt man in die Halle, auf welche das die südöstliche Ecke einnehmende Empfangszimmer folgt. Die Mitte der Südseite nimmt der Speisesaal ein . . . An der südwestlichen Ecke, gleichwie an der nordwestlichen sind Konversationszimmer, und zwischen beiden liegt der (Ball-)Saal, der größte Raum im Hause, mit der Aussicht nach Stuttgart . . . An der Nordseite, also gegen den Rosenstein hin, folgt das Billard und daranstoßend die Bibliothek, mit welcher wir wieder beim Eintrittsvestibül angekommen sind.“ Ein Kreislauf repräsentativer Räume also, der beim Eingang an der Nordostecke beginnt und endet. Der Architekt verwendet nur hier den Begriff „Eintrittsvestibül“.

In Kontakt mit Ingenieuren der technischen Avantgarde

In der Biografie des Architekten finden sich Erklärungen für seine energische Erfindungslust. Der junge Leins war als Mitarbeiter beim berühmten Henri Labrouste 1837 bis 1840 in Paris Zeuge (und Mitwirkender?) bei der Planung der Bibliothek Sainte-Geneviève; deren zweischiffiger, hallenartiger Lesesaal geriet mit seiner gusseisernen Bogenkonstruktion so irritierend neuartig, dass sich der große Gottfried Semper gar nicht zu fassen wusste: „unglücklicher sichtbarer eiserner Dachstuhl“.

Auch kam Leins dort in Kontakt mit Ingenieuren der technologischen Avantgarde: mit Eugène Flachat, dem Eisenbahningenieur, beteiligt am Bau der ersten beiden Pariser Bahnhöfe, und mit Jules Petiet, dem Maschinenbauer, der später die Duplex-Lokomotive entwickeln sollte. Später, in Stuttgart, baute er mal klassizistisch – den Königsbau etwa mit seinen imposanten Kolonnaden, einen ganz neuen Bautypus mit Veranstaltungssaal oben und Läden unten –, mal neugotisch, zum Beispiel die Johanniskirche am Feuersee, dann die sehr merkwürdige erste Stuttgarter Liederhalle mit einem Saal für 2500 Besucher – ein vielseitiges Werk.

Der Ballsaal hat Aussicht in Richtung Stuttgart

Zurück zur Villa Berg: auch die Raumorganisation ist neuartig. In Palladios Villa Rotonda von 1591, der Modellvilla der Neuzeit, kreist der Grundriss schematisch um den Zentralraum, die Treppen sind klein und versteckt – eine idealtypische Transformation des antiken Atriumhauses, neuzeitlich ergänzt um inszenierte Verbindungen zum landschaftlichen Außenraum. Noch Gottfried Semper zitiert, nur 14 Jahre vor der Villa Berg, die Rotonda fast wörtlich. Auch in seiner Villa Rosa reihen sich die Räume um einen innen liegenden, leeren Zentralraum, der über beide Geschosse reicht, auch hier ist die Treppe untergeordnet. Leins will dieser Tradition nicht folgen. Zwar ist auch sein Villengrundriss um ein Zentrum herum organisiert; dies ist aber kein leerer Raum mehr, sondern ein imposanter Treppensaal, der Repräsentationsräume und fürstliche Appartements prominent verbindet. Und er ist glasgedeckt, also taghell wie ein Außenraum. Den mehrgeschossigen Saal hat Leins übrigens nicht vergessen, nur hat er ihn – es ist der Ballsaal – an die Westfassade gerückt, „mit der Aussicht nach Stuttgart“.

Um seine Zweigeschossigkeit noch besser zu nutzen, erfindet Leins im oberen Geschoss, wo die zentrale Treppe endet, einen breiten Balkon, von dem herab man dem Geschehen im Ballsaal zusehen kann, wie aus einer Theaterloge. Auch gelingen Leins mit den Vor- und Rücksprüngen seiner Fassaden praktische Grundrisse. Der stete Wechsel der Raumtiefen ermöglicht unter Beibehaltung einer Türflucht vielseitige Raumbelegung. Weiter baute Leins ein drittes Stockwerk, die Eckzimmer für die Dienerschaft bilden die Türme und haben richtige Fenster zum Park.

Die Nordflügel gibt es nicht mehr

Nach Krieg und Wiederaufbau ist das alles verschwunden. Erhalten sind nur das Sockelgeschoss (verändert) und die Außenmauern des Villenhauptgebäudes bis zur Oberkante des zweiten Obergeschosses. Das Raumgefüge des ersten und zweiten Obergeschosses ist ausgetauscht gegen den Sendesaal und seine Nebenräume, das dritte Geschoss fehlt fast vollständig mitsamt den Außenmauern der Ecktürme und dem Glasdach. Die Nordflügel gibt es nicht mehr, an ihrer Stelle steht, zum Teil, der Gutbrod’sche SWR-Bau.

Die Villa Berg ist bereits vor siebzig Jahren zerstört worden. Sie jetzt mitsamt dem eingestaubten Sendesaal abzureißen, wäre nicht ohne Konsequenz. Ohnehin glaubt kaum jemand an seine Wiederbelebung als zeitgemäßer Veranstaltungsort. Will man die Villa wiederhaben, muss man sie rekonstruieren: Das heißt mindestens, ihre Außenform wiederherstellen und ihre wesentlichen Raumfolgen im Innern. Sonst ist es nicht die Villa Berg.