Streamingdienste wie Spotify sind eine musikalische Parallelwelt, in der Künstler wie Bunt und Niklas Ibach zigmal so viele Klicks sammeln wie etwa Die Fantastischen Vier oder Andrea Berg. Eine kleine Gruppe von Mitarbeitern entscheidet wesentlich über den Erfolg – über die bei Spotify und Co. beliebten Playlists.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Wer regelmäßig die Schleyerhalle ausverkauft, ist im Netz noch lange kein Überflieger. Das zeigt ein Blick auf den Streaming-Erfolg von Popmusikern aus der Region Stuttgart. „25“, der auf Spotify erfolgreichste Song der Fantastischen Vier etwa, hat beim weltweit größten Musikstreamingdienst nur gut halb so viele Klicks wie „Old Guitar“ von der deutlich weniger bekannten Ludwigsburger Duos Bunt. Der Stuttgarter DJ Niklas Ibach übertrifft die Zahlen von Andrea Bergs „Du hast mich tausendmal belogen“ um das Sechsfache. Und „Morgenkaffee“ von der Fellbacher Band Matu hat mehr Klicks als der CamouflageWelthit „Love Is A Shield“. Willkommen im popmusikalischen Paralleluniversum – bei dem man sich angesichts solcher Zahlen fragt, wie es eigentlich funktioniert.

 

Im Falle von Matu lautet die Antwort „Top of the Morning“: so heißt die Spotify-Playlist, auf der die Band erstmals auftauchte. Sie versammelt – wie eine Morgenshow im Radio, jedoch ohne Wortbeiträge – Musik für den entspannten Start in den Tag und richtet sich an Hörer, die „für jede Situation, Genre und Stimmung die passende Musik schnell parat“ haben wollen. So formuliert es Manuela Wurm, deren Team bei Spotify Deutschland rund 100 solcher teils von hunderttausenden Nutzern abonnierten Playlists pflegt. Sie tragen Namen wie „Wintergefühle“, „Morgenröte“ oder „Deutschrap gegen schlechte Laune“: Musik für jede Lebenslage.

Die Listen enthalten je mehrere Stunden Musik. Auch Spotify-Konkurrenten wie Deezer oder Apple Music stellen Playlists zur Verfügung. Die Kunden greifen gerne zu – und treiben so die Abrufzahlen in die Höhe. „Playlists sind der neue Standard, um neue oder unbekannte Musik zu hören“, sagt Bas Grasmeyer. Das sei schlicht komfortabler, als Alben ins Regal zu stellen oder auf der Festplatte zu speichern, meint der niederländische Experte für digitale Musikwirtschaft.

Erfolgreich mit Playlists

Für Künstler und Plattenfirmen eröffnet der Trend neue Möglichkeiten, Hörer zu gewinnen – auch ohne Konzerte oder Werbekampagne. Bei Matu sei es „reiner Zufall“ gewesen, dass ein Song es in eine beliebte Playlist geschafft habe, sagt der Sänger Mario Simic. Niemand sei auf Spotify zugegangen. „Man kommt an die Playlist-Macher ja auch gar nicht ran“, meint Simic.

Das stimmt nicht ganz, wie das Beispiel des Duos Bunt zeigt. Die 23 Jahre alten Ludwigsburger haben einen Manager der US-Plattenfirma Interscope engagiert. Musik bei Streamingdiensten für Playlists anzupreisen, ist eine übliche Praxis. Der Bunt-Song „Old Guitar“ wurde freilich zuerst außerhalb der Streamingwelt ein Erfolg – als Soundtrack zum Start eines US-Musikdiensts. Die so erzeugte Nachfrage und gute Kontakte des Managers brachten den Song in die Spotify-Playlists – woraufhin die Modemarke Hollister den Klickhit für einen Werbespot lizenzierte.

Ist Streaming gut oder böse?

Da kommt ein schönes Sümmchen zusammen – trotz der von Musikern geäußerten Kritik, dass pro gestreamtem Song nur der Bruchteil eines Cents an die Künstler fließt. Popstars wie Adele und Taylor Swift haben ihre Alben medienwirksam Spotify und Apple Music vorenthalten – zumindest für einige Monate. Forschung und Industrie sind nicht so kritisch. Laut einer vom Tübinger Marketingprofessor Dominik Papies veröffentlichten Studie nehmen die Musikumsätze durch Streaming eher zu. Streaming sei das „Zugpferd der digitalen Musikbranche“, sagte der Chef von Sony Music Deutschland, Philip Ginthör, der „Süddeutschen Zeitung“. Es sorge dafür, „dass die Umsätze endlich wieder wachsen“. Ginthör rechnet vor, dass ein Streamingkunde 120 Euro im Jahr zahlt (also 12 Mal die übliche Monatsgebühr von zehn Euro). Im CD-Zeitalter dagegen habe das durchschnittliche Jahresbudget für Musik nur 60 Euro betragen.Da ist angesichts Millionen zahlender Kunden viel Geld im Spiel. Kuratoren entscheiden mit, wer welches Stück vom Kuchen abkriegt. Laut einem Bericht des US-Magazins Billboard bezahlen Manager die Kuratoren, damit ihre Künstler in wichtigen Playlists auftauchen – oder kaufen gleich die ganze Liste, für angeblich bis zu 10 000 Dollar. Die Chefkuratorin von Spotify Deutschland, Manuela Wurm, widerspricht: „Es fließt kein Geld. Wir erstellen und aktualisieren alle unsere Playlists basierend auf dem täglichen Musikkonsum und den Hörgewohnheiten unserer Nutzer.“

Beweisen lässt sich nichts, aber das Beispiel Bunt zeigt, dass Playlist-Kuratoren nicht im Elfenbeinturm sitzen. Neben menschengemachte Listen treten laut der Spotify-Kuratorin Wurm solche, die Algorithmen für jeden Nutzer anhand dessen Hörgewohnheiten erstellen.

Pop-Dinos, die vor dem Streaming-Zeitalter bekannt wurden, tun sich damit schwer. Andererseits übertragen sich Onlineerfolge der Newcomer kaum auf die analoge Welt – etwa in Form von Konzertbesuchern oder Plattenverkäufen. Bunt oder Niklas Ibach veröffentlichen ihre Musik gleich gar nicht auf CD oder Platte, Liveauftritte sind selten. Komplett getrennt sind die alte und die neue Musikwelt jedoch nicht: Der Matu-Sänger Mario Simic sieht in Spotify-Klicks immerhin ein Argument, um etwas leichter an Auftritte zu kommen. Noch lieber als auf Playlists wolle die Band indes im Radio auftauchen: „Da erreichst du die Leute ganz anders. Und es fließt auch mehr Geld.“