Laut den aktuellen Umfragen liegt die SPD mit Martin Schulz an der Spitze weit abgeschlagen hinter der Union. Hat Kanzlerin Angela Merkel ihren vierten Wahlsieg schon sicher? Erfahrungen aus früheren Wahlen mahnen zur Vorsicht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Es sind noch 92 Tage bis zur Bundestagswahl. Doch die aktuellen Umfragen erwecken den Eindruck, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei der Sieg schon gewiss. Die Union liegt in der Gunst der Bürger bei 39 bis 41 Prozent, die SPD 15 Prozentpunkte dahinter.

 

Ist die Mission des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz folglich aussichtslos? Dagegen sprechen Erfahrungen aus früheren Wahlkampagnen und ein Trend, der Demoskopen das Geschäft erschwert: Viele Wähler sind noch unentschlossen. Der Anteil derer, die erst in den letzten Tagen vor dem Wahlsonntag oder gar erst in der Wahlkabine selbst entscheiden, wem sie ihre Stimme schenken, wächst von Wahl zu Wahl. Ein Drittel der Bürger gilt als Spontanwähler.

Merkel erlebte bei ihrem Debüt eine böse Überraschung

Vor vier Jahren waren die Verhältnisse ähnlich klar wie jetzt: Hundert Tage vor der letzten Bundestagswahl taxierte das Institut infratest dimap in seinem Deutschlandtrend die Union auf 41 Prozent. Am Ende erreichte sie 41,5 Prozent. Die SPD lag im Deutschlandtrend Mitte Juni 2013 bei 25 Prozent. Am Wahltag erhielt sie 25,7 Prozent. Eine Überraschung erlebten allerdings die Grünen. Sie konnten sich bei der Sommer-Umfrage mit 14 Prozent noch auf der Siegerstraße wähnen. Am Wahlsonntag mussten sie sich mit 8,4 Prozent begnügen.

Ein Erdrutsch vergleichbarer Dimension hätte Merkel bei ihrem Debüt als Spitzenkandidatin der Union 2005 beinahe das sicher geglaubte Kanzleramt gekostet. Nach dem Scheitern der rot-grünen Bundesregierung sahen die Demoskopen sie Mitte Juni bei 46 Prozent. Binnen drei Monaten sackte sie auf 35,2 Prozent ab. Der furiose Wahlkämpfer Gerhard Schröder hievte seine SPD mit einer Kampagne gegen die angeblich neoliberalen Reformpläne der Union von mageren 28 (Deutschlandtrend Juni 2005) auf 34,2 Prozent.

Schröder gelang es zweimal, die Stimmung in kurzer Zeit zu drehen

Auch im Jahre 2002 schien der Kampf um die Regierungsmacht vor Beginn der eigentlichen Wahlkampagne schon entschieden. Der damalige Kanzlerkandidat Edmund Stoiber lag mit CDU und CSU Ende Juni im Deutschlandtrend bei 39 Prozent, Schröders SPD bei 36 Prozent. Am Wahlsonntag im September 2005 erreichten beide 38,5 Prozent. Schröder konnte 6027 Zweitstimmen mehr verbuchen als sein Konkurrent aus Bayern und folglich weiter regieren. In der heißen Phase des Wahlkampfs hatte er sich während eines Hochwassers an der Elbe als Krisenmanager („Deichgraf“) profiliert. Zudem vermochte er mit seinem gegen US-Präsident George W. Bush gerichteten Anti-Kriegs-Kurs im Irak-Konflikt punkten.

Bei beiden Wahlen 2002 und 2005 war es Schröder gelungen, binnen weniger Wochen die politische Stimmung im Land zu drehen. „Campaigns do matter“ – so umschreiben amerikanische Wahlstrategen dieses Phänomen: Wahlkämpfe sind keineswegs verplempertes Geld. Auch für vermeintlich abgeschlagene Kandidaten ist es durchaus möglich, Boden gut zu machen. Das gilt erst recht in Zeiten wie diesen, die von geradezu hysterischen Stimmungsumschwüngen geprägt sind.