Sieben Jahre hat die Sanierung der Berliner Staatsoper Unter den Linden gedauert – nun ist das Traditionshaus mit einem Theaterprojekt rund um Robert Schumanns „Faust“-Szenen wiedereröffnet worden. Der Klang im Zuschauersaal ist fantastisch. Die Bühnenkunst darin kann am Premierenabend nicht mithalten.

Berlin - Eine elektrische Klingel; davor, ganz schlicht: ein Mikrofon. So entstand jahrzehntelang das Pausensignal der Oper Unter den Linden. In ihrer Filmdokumentation „Umzug in drei Akten – eine Baustellen-Oper“, die einen Tag vor der Wiedereröffnung des Berliner Hauses im Stuttgarter Atelier am Bollwerk zu sehen war, zeigt die Theaterhaus-Schauspielerin und Regisseurin Anne Osterloh neben viel persönlicher Wehmut über den Abschied vom Alten auch die wunderbar gestrige Klanginstallation. Die Klingel, das Mikrofon davor und die Leitungen in Flure und Pausenräume haben die siebenjährige Sanierung der Staatsoper nicht überlebt, wurden aber bisher noch nicht durch Neues ersetzt. Das wird sich ändern, wenn das Haus nächste Woche nochmals bis Dezember geschlossen wird, um es, wie es so schön heißt, „bühnentauglich“ zu machen. Aber bei der (dennoch!) ersten Bühnenpremiere zur Wiedereröffnung am Dienstagabend ereignete sich der Einzug des Publikums in den Saal zunächst gleichsam nach dem Leithammel-Prinzip. Oder nach den Weisungen wichtiger junger Männer mit Kabeln am Hals, die auf die zahlreich erschienene Prominenz (von Steinmeier über Merkel bis zu Lammert) aufpasste. Das geht auch, ist nur ein wenig zäh.

 

Es wäre billig, diese Bemerkung als Überleitung zum Faust-Theater „Zum Augenblicke sagen: Verweile doch!“ zu nehmen, aber irgendwie wäre es schon stimmig. Diese Produktion ging auch, war aber zäh. Jürgen Flimm, Noch-Intendant des Hauses bis zum Frühjahr 2018 (dann folgt ihm Matthias Schulz nach, der jetzt schon als Ko-Intendant agiert), hat als Regisseur für den festlichen Abend den wohl deutschesten aller Theaterstoffe gewählt, den ein sehr deutscher Romantiker vertonte: Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“. 1853 mit der Komposition der Ouvertüre beendet, erzählt das episodische Werk nur Teile des Dramas, und in die Lücken hat Flimm etliche Theaterszenen der literarischen Vorlage derart eingefügt, dass sich ein „Faust“-Patchwork aus Gesprochenem und Gesungenem mit je einem Sänger und einem Schauspieler pro Partie ergibt.

Massenspektakel der Religionen

Der Künstler Markus Lüpertz hat die Bühne gestaltet. Er spannt das Geschehen zwischen zwei monumentalen Skulpturen auf: rechts ein Mann (Faust), links eine Frau (Gretchen). Dazwischen finden sich zwei unterschiedliche Guckkastenbühnen, die eine ein Quader, die andere ein spitzwinklig zulaufender Raum; beide sind sehr bunt bemalt, sie können sich drehen, können nach vorne und nach hinten gefahren werden, und beide sind mit allerlei Bedeutsamem beschriftet. Das biblische „Am Anfang war das Wort“ ist auch dabei – schließlich steht die Erlösung bei Schumann derart im Zentrum, dass Faust bei ihm etwas durchaus Messianisches anhaftet.

Schumanns „Es ist vollbracht“ nimmt Jürgen Flimm zwar zurück, aber seine Schlussszene ist ein Massenspektakel der Religionen und Assoziationen: Nachen fahren den Künstlermenschen ins Jenseits, fünf Buddhisten-Figuren geben die Büßerinnen, Priester tragen Schilder mit der Aufschrift „Tat“ und „Kraft“ umher, Gretchen wird als Stabpuppe von Mephisto bewegt, und inmitten bewegter Massen rundet sich der Kreis zurück zum Beginn: Faust bietet Gretchen Arm und Geleit an. Dass sich die junge Frau, bevor der Vorhang fällt, noch mit just jener Phiole vergiftet, die eigentlich ihre Mutter in tiefen Schlaf hüllen sollte, darf man als Versuch verstehen, die Apotheose des „ewig Weiblichen“ bei Goethe und Schumann ein wenig zu entkräften.

Die Ironie kommt allerdings ein bisschen zu spät. Sie hätte vorher, im Wechsel zwischen Schauspiel und Musik, ziemlich gute Chancen gehabt, bleibt dort aber leider trotz etlicher Grenzübertritte und Personalwechsel zwischen den Gattungen ziemlich punktuell, und daran können aufseiten der Schauspieler auch Meike Droste als Gretchen und der quirlige Sven-Eric Bechtolf als Mephisto nichts ausrichten. Nur André Jung tritt in seinem sprechenden Nachvollzug immer wieder auf berückende Weise einen Schritt zurück – als spielte er einen Faust, der weiß, dass er einen Faust spielt. Die Sänger – Roman Trekel als Faust, René Pape als Mephisto und Elsa Dreisig, die das Gretchen mit ätherischer Sopranschönheit schmückt – bringen viel Emphase ein. Aber das Ergebnis ist nur ein dekoratives Fragezeichen. So wie Schumanns „Faust“-Szenen ein hybrides Werk zwischen Oratorium, Literatur-Kantate und Chorsinfonie, zwischen kleiner und großer Form, Lyrischem und Dramatischem ist, so wirkt auch Flimms Zugriff merkwürdig unentschieden. Interpretiert wird kaum, ironisiert ebenfalls nicht, und der Rahmen des Theaters bleibt, auch wenn sein Titel das Zeitgebundene der Kunst auf der Bühne thematisieren will, schlicht Theater: bunt, aufwändig, farbenfroh.

Der Saal klingt nicht mehr plüschig, sondern offen und klar

Dass Schumanns Musik psychologisch tief eintaucht in die Figuren, macht immerhin die Staatskapelle unter Daniel Barenboims Leitung oft hörbar. Dem Orchester gelingen sehr feine Abtönungen zumal im Lyrisch-Liedhaften, und Barenboim kann das Schwelgerische der Melodik voll auskosten. Das liegt auch an der Akustik: Nach der Anhebung und der Einfügung einer „Nachhallgalerie“ klingt der Saal jetzt nämlich nicht mehr nach einem gutbürgerlich-plüschigen Wohnzimmer, sondern offen und klar. Die derzeit für ideal gehaltene Nachhallzeit von 1,6 Sekunden, heißt es, sei hier erreicht, und tatsächlich wirken die Streichergruppen exzellent gebündelt, und bei den Bläsern knallt höchstens mal ein hoher Piccoloflötenton heraus. Auch die Verbindung und die Balance zwischen Orchestergraben und Bühne sind gut – ein paar kleinere Koordinationsprobleme einmal ausgenommen.

Der springende Punkt liegt ganz woanders. Die Berliner Staatsoper ist, auch wenn vieles optisch so anmutet wie früher, nach ihrer Sanierung eines der modernsten Opernhäuser der Welt. Jetzt aber haben drei Männer, die alle um die 75 Jahre alt sind – Flimm, Barenboim, Lüpertz –, die Eröffnung in einer Weise gestemmt, die an den Aufstand der Traditionsfreaks erinnert, welche 2008 die eigentlich schon abgesegnete Idee eines vollständig neuen Saals im alten zum Kippen brachten. Architektonisch ist der Brückenschlag zwischen Gestern und Heute gelungen, aber eine Produktion wie dieser „Faust“-Abend wirkt im sanierten Haus wie alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn die Berliner Staatsoper eine Zukunft und Strahlkraft haben will, dann muss ihr auch künstlerisch ein Aufbruch gelingen. Es muss eine Vision da sein. Visionen aber sind Blicke nach vorne, nicht zurück; ein „Verweile doch!“ ist ihr Todesstoß.