Ein Satz! Er genügt, und schon nimmt man das erneute Dichterjubiläum wieder gern zum Anlass, auf Entdeckungsreise zu gehen. Wenden wir uns also doch wieder dem alten Engländer zu. Vielmehr seinem Werk, diesen round about 38 Stücken, Versdichtungen und 154 Sonetten, deren Qualität und Intensität so frappierend ist, dass es viele Kenner einem einzelnen Autor gar nicht zutrauen, schon gar nicht einem kleinen Grammar-School-Absolventen aus tiefster englischer Renaissance-Provinz (weswegen es ja auch komplexeste Verschwörungstheorien gibt, wo stattdessen die Quelle dieser Dichtung zu finden sei; aber dazu an anderer Stelle mehr; das Jahr 2016 ist ja noch lang).

 

Es gibt viel, was an diesem Werk fasziniert. Eines davon ist zweifellos der immense Reichtum an Figuren. Da sind die großen Hauptrollen – vielleicht nicht König Johann, aber eben auf jeden Fall Richard III., Hamlet, Macbeth, Shylock, Romeo und Julia, Othello, Julius Cäsar, König Lear, Prospero und und und. Aber was wären diese Theatersonnen ohne all die kleineren Gestirne in ihrer Nähe? Was wäre Richard III. ohne den Herzog von Buckingham? Was Hamlet ohne Rosenkranz und Güldenstern? Was Macbeth ohne die Hexen? Was Prospero ohne Caliban? Was wäre das ganze Theater ohne Puck und Zettel? Ohne Malvolio in seinen gelben Hosen? Ohne den dicken Falstaff? Ohne all die kleinen schlüpfrigen Luftgeister und die alten tiefsinnigen Totengräber? Wer als Schauspieler mit Shakespeare-Stücken berühmt werden möchte, muss ganz sicher nicht nur auf die Hauptrollen spekulieren. Er kann auch mit kleineren Partien reüssieren. Shakespeare war eben nicht der Absolvent eines Dramaturgie-Studienganges. Sondern der Chef einer freien Schauspielertruppe.

Widmen wir uns darum von diesem Montag an in einer neuen StZ-Kolumne den Figuren in Shakespeares Kosmos. „Mannschaft“ mag man dazu nicht sagen, dazu sind im Einzelfall die Genderfaktoren viel zu diffizil. Sagen wir doch einfach: Shakespeares Kompanie. Willkommen im Shakespearejahr 2016! Welcome to Shakespeare’s Company!

Shakespeare’s Company (1): Hamlet

Gleich zum Auftakt unserer neuen Reihe greifen wir in die Vollen: Es tritt auf der berühmte Prinz von Dänemark! Eine Zentralgestalt des Welttheaters! Ist irgendwo an deutschen Bühnen ein wirklich talentierter junger Nachwuchsschauspieler denkbar, der nicht davon träumt, vor seinem 35. Geburtstag mit dieser Rolle betraut zu werden? Um dann getrieben von dunklen Ahnungen und den Einflüsterungen eines Gespenstes der heuchlerischen Mutter und dem machtgeilen Onkel ordentlich nachzustellen und einzuheizen, bis endlich – Ho! Ha! – das schreiende Unrecht offen zum Himmel schreit, dass nämlich der eigene Vater mit Gift vom Thron und in den Tod gestoßen wurde? Dass bei diesem Enthüllungs-Feldzug allerlei Kollateralschäden zu beklagen sind, zum Beispiel eine Wasserleiche, dass fast die ganze Familie irgendwann auf der Bühne verblutet, dass schlussendlich das ganze schöne Dänemark gar vom Norweger Fortinbras erobert und verfrühstückt wird – wenn kratzt es? Hamlet jedenfalls nicht. Er will Wahrheit um jeden Preis – und vergeht. Ach, ein junger Schauspieler muss diese Rolle wollen, um jeden Preis. Sonst wird das nix. Nur mit dieser Einstellung kann er jene Textstelle meistern, die zum allgemeinen Theaterzitat schlechthin geworden ist. Dritter Aufzug, zweite Szene: „Sein oder Nichtsein“ – das ist hier die Stelle, an der man schnell auch mal ein dümmliches Kichern im Publikum erntet, wenn der junge Hamlet auf der Bühne den passenden Ton nicht trifft. Ein guter Shakespeare verlangt echtes Theater.