Die Latte liegt hoch: Winfried Kretschmann könnte der erste grüne Ministerpräsident im Land werden. Er verzichtet weitgehend auf Polemik.

Tuttlingen - So müde kann Winfried Kretschmann gar nicht sein, dass er nicht noch ein philosophisches Kurzreferat aus dem Ärmel schütteln könnte. "Heidegger", erklärt er seinem Mitarbeiter, der auf der Wahlkampftour die Termine koordiniert, "Heidegger ist für mich eher ein Mystiker als ein Philosoph" gewesen. Es geht auf elf Uhr zu, der Fahrer des für den Wahlkampf geleasten Kleinbusses kurvt über die bewaldeten Höhen des Witthoh bei Tuttlingen.

 

Der Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahl hat an diesem Tag bereits sechs Wahlkampftermine hinter sich, darunter eine "echt heftige Diskussion" mit Lesern einer Lokalzeitung. Auf der Heimfahrt lockert er nicht einmal die Krawatte. Auf Heidegger, von dem Kretschmann nicht viel hält, ist man im Gespräch über dessen Geburtsort Meßkirch gekommen. Dort, bei der Narrenzunft, hatte der alte Hase in der Politik seinen schwierigsten Auftritt. "Wenn du den verhagelst, dann schwätzt ganz Meßkirch drüber".

Verwurzelt, aber nicht volkstümlich

Bei aller Verwurzelung und Heimatliebe ist der Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik aus dem Sigmaringer Teilort Laiz doch nicht volkstümlich. Äußerstenfalls legt er Menschen, die strahlend auf ihn zukommen, um ihm Glück zu wünschen, im Weitergehen kurz die Hand auf die Schulter, joviales Schulterklopfen wäre bei ihm unvorstellbar.

Herbert Nübling hat sich extra freigenommen, damit er seinen Schulkameraden Kretschmann im Wahlkampf in Tuttlingen erleben kann. Er hat den zwei Jahre Älteren, mit dem er früher gemeinsam im Zug nach Sigmaringen zum Hohenzollerngymnasium fuhr, in bester Erinnerung. "Er war immer zugänglich. Er hat mich seine Aufsätze lesen lassen", lacht Nübling. Zum Beispiel den über: "Kritik. Ein Recht, eine Pflicht, eine Gefahr". Kretschmann kann sich zwar nicht mehr erinnern, aber das Thema bringt ihn noch nach mehr als 40 Jahren zum Schmunzeln.

"Politik ist der Raum, in dem Wunder passieren"

Die Begeisterung für die Politik hat er sich erhalten. Geradezu idealistisch zerstreut der 62-Jährige die Bedenken eines Studenten in Konstanz, ob er denn die Konzepte der Grünen alle verwirklichen könne. "Politik ist der Raum, in dem Wunder passieren", sagt der Spitzenkandidat lächelnd und führt den Fall der Mauer, den Aufstand in Ägypten und - augenzwinkernd - die jüngsten Landtagswahlen an. "Wenn die Wähler den Mut haben, uns zu wählen, wird sich etwas ändern, da können Sie ganz sicher sein."

Etwas hat sich geändert, ohne dass die Grünen aktiv etwas dazutaten. Das Kernkraftwerk Neckarwestheim wird stillgelegt. Die Katastrophe in Japan hat CDU und FDP zum Umdenken in der Atomenergie gezwungen. "Da haben Sie einen guten Start jetzt, mit Japan", ruft eine Marktfrau in Esslingen dem Wahlkämpfer anerkennend hinterher. "Das regt die Leute schon auf", antwortet Kretschmann zurückhaltend im Vorübergehen. Man schlägt doch kein Kapital aus einem GAU. Das dreimonatige Moratorium sieht er als Farce, als "taktisches Manöver von Schwarz-Gelb, sich über die Landtagswahlen zu retten". Einer der Marktbesucher spricht ihm aus der Seele - die Leute ließen sich einlullen von drei Monaten Stillstand. Der Passant will wie Kretschmann einen geregelten Ausstieg aus der Kernenergie. Auf dem Wochenmarkt bestimmt die Atomkraft, die seit Tagen die Schlagzeilen beherrscht, dennoch nicht die kurzen Dialoge. Die Haltung der Grünen ist unverändert, das Thema so untrennbar mit der Partei verbunden, dass Kretschmann nicht glaubt, dass die CDU mit ihrer Aktion den Grünen auf dem Feld Stimmen abnehmen kann. In Esslingen geht es um Radwege, eine ältere Dame will den Politiker "einfach mal live sehen". Ein Gemüsehändler moniert die Haltung zu Stuttgart 21, "das hab ich Ihnen ein bissle übelgenommen, dass Sie diese Scheißdemos nicht beendet haben, nach der Schlichtung".

Distanziert, aber unermüdlich

Etwas verloren geht Kretschmann mit seinem Strauß Tulpen, die er verschenken will, über den Marktplatz. Das scheint seine Sache nicht. Die Hälfte der Blumen bleibt übrig. Aber der distanzierte Wahlkämpfer ist unermüdlich. Er macht seit mehr als 30 Jahren Politik und ist doch kein Routinier. In diesem Wahlkampf hält der Mann, der mit geringen Unterbrechungen seit 1980 Landtagsabgeordneter ist, "zum ersten Mal im Leben" Reden, ohne auch nur Notizen dabeizuhaben, gesteht er fast entschuldigend. Das legt nahe, dass er bei den vielen Auftritten im Wesentlichen stets das Gleiche sagt. Das hat ihn früher an den eingefleischten Politikern geärgert. Jetzt bewegen sich die Grünen den Umfragen nach in Gefilden, die sie zu einer Volkspartei befördern könnten. Jetzt geht es darum, viel mehr Menschen zu erreichen als die bisherige urgrüne Klientel. Dafür muss man sich wiederholen - auch wenn es schwerfällt.

Doch der engagierte Katholik versucht, auch im Wahlkampf sich und seinen Werten treu zu bleiben. Er ist ausgezogen, Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Also verzichtet er weitgehend auf Polemik. Ob in der alternativ angehauchten Tuttlinger Buchhandlung vor 40 Altgrünen oder im Jahrhundertwendesaal eines Konstanzer Restaurants mit 120 Besuchern - seine Auftritte gleichen Politikseminaren. "Ich will Ihnen das an Beispielen erläutern", ist der Schlüsselsatz des Pädagogen auf Stimmenfang. Im Erläutern ist er gut.

"Der arbeitet mit Samthandschuhen."

 Herbert Nübling würde sich seinen Schulkameraden kämpferischer wünschen: "Der arbeitet mit Samthandschuhen." Kretschmann weiß, dass sich auch einige seiner Parteifreunde mehr Aggressivität wünschten, vor allem gegen Stefan Mappus. "Das liegt mir nicht", sagt er, und lässt es. Glaubwürdigkeit ist das Pfund, mit dem Kretschmann wuchert. Bei der Wahlveranstaltung in Konstanz führt der Landtagsabgeordnete Siegfried Lehmann seinen Fraktionsvorsitzenden als einen Mann ein, der "ein klares Gerüst von Werten hat, ein Fundament, auf dem er seine Politik macht". Prinzipientreue und ein Wertekompass hatten nicht immer Konjunktur.

Vor dem großen Streit über Stuttgart 21 und der Glaubwürdigkeitskrise der Politik war Kretschmann in seiner Partei manchem zu moralinsauer, anderen ohnehin zu pragmatisch. Er biedert sich nicht an, auch nicht bei seinen Parteifreunden. Mit den "Krachfundis" hat es der Mitbegründer der Grünen noch nie gekonnt, auch wenn er sich in seiner Jugend zu kommunistischen Gruppen verirrt hatte. Die Partei stellte ihm ein Spitzenteam an die Seite. Weil der Spitzenkandidat nicht links genug stand, weil gemunkelt wurde, er liebäugle mit einer schwarz-grünen Koalition. Das war im Juni 2010. Inzwischen spricht keiner mehr vom Spitzenteam, auch nicht von Schwarz-Grün. Die Ereignisse überschlugen sich: erst Stuttgart 21, dann der GAU in Japan. Bei S21 wurde Kretschmann mal zum Brückenbauer stilisiert, der vermitteln sollte zwischen Demonstranten und etablierter Politik. Mal wetterten Demonstranten und Parteifreunde, er gehe viel zu sehr auf die andere Seite zu.

Der Ruhe beraubt, aber nicht der Überzeugung

Dieser Konflikt mag dem leidenschaftlichen Politiker manchmal die Ruhe geraubt haben, nicht aber die Überzeugung. Der Charme der Demokratie bestehe darin, dass es Alternativen gibt, sagt er. Das ist das Kernargument, das er denen entgegenhält, die die Grünen als Dagegen-Partei beschimpfen. Ohne die Stimme zu erheben, verspricht er, "wir werden ein Ende machen mit Hinterzimmer- und Geheimhaltungspolitik". Er wiegelt Befürchtungen ab, die die Gegenseite mit einem Angstwahlkampf zu schüren versucht. Das zeigt sich bei der Bildung. "Seien Sie versichert", sagt er den Eltern und Großeltern unter seinen Zuhörern, "wir machen nichts, was woanders nicht schon gut funktioniert". Er spricht über die wirtschaftlichen Chancen der alternativen Energien, über die Liebe zur Natur und über die "Politik des Gehörtwerdens", die er verwirklichen will, wenn er gewählt wird.

Die 22-jährige Literaturstudentin aus Konstanz kann sich das vorstellen. Sie sei skeptisch was Vorträge angehe, sagt sie und schiebt Lob nach. "Ich fand's positiv. Ich habe das Gefühl, er steht dahinter". Winfried Kretschmann könnte der erste grüne Ministerpräsident werden. Der Respekt vor dem Wähler verbietet es ihm zu sagen, er strebe das Amt an. "Wird es mir aber anvertraut, dann will ich es kraftvoll ausüben", versichert er lächelnd. Das genügt ihm als Antwort an jene, die Gerüchte streuen und an seiner Gesundheit zweifeln.