Fernsehturm, Schloss und Königstraße mal links liegen lassen: Diese Stadttouren bringen uns Stuttgart von einer anderen Seite näher - und entfachen eine alte Liebe ganz einfach neu.

Stuttgart - Wer beim Wort Stadtführung sofort an uniforme Reisegruppen denkt, die dem rigoros in die Höhe gestoßenen Regenschirm einer schlecht informierten und noch schlechter gelaunten Reiseleiterin in blindem Kadavergehorsam folgen, der liegt damit leider nicht ganz falsch. Es gibt sie wirklich überall, die standardisierten Spießrutenmärsche vorbei an den angeblich wichtigsten Sehenswürdigkeiten einer x-beliebigen Großstadt.

 

Abseits der Wege

Dass man eine Stadt dabei nur von einer sehr oberflächlichen und touristischen Seite kennenlernt, verwundert mit Sicherheit niemanden. Die wirklich spannenden Seiten einer Stadt entdeckt man eben immer noch abseits der Wege. Da, wo sich nicht Modekette an Kaffeehaus-Kette reiht, da wo sich nicht gestresste Horden zeitgeplagter Kurzzeittouristen über die Gehwege schieben, die Selfie-Sticks vor sich in den ausgestreckten Armen wie ein Kind, das sie zur Taufe tragen.

Für Stuttgart gilt das vielleicht sogar in besonderem Maße. Zwar bieten die roten Doppeldeckerbusse durchaus einen ganz netten Überblick; nicht jeder interessiert sich aber für Orte wie Schweinemuseum oder Mercedes-Benz-Museum. Ja, das glauben wir wirklich – und haben deswegen einige nette Alternativen ausfindig gemacht, bei denen sich selbst langjährige Stuttgarter noch mal neu in ihre Stadt verlieben können. Vielleicht nicht alle elf Minuten, aber dafür wenigstens hin und wieder.

Futter dich durch die Stadt

Weil die Liebe ja bevorzugt durch den Magen geht, wären die Stuttgart-Touren von Eat the World eine geeignete erste Anlaufstelle für das neue Verlieben– kulinarische Stadtrundgänge, die den Westen, den Osten oder den Süden von seiner leckeren Seite zeigen. „Unsere kulinarischen Touren sind interessant für Stuttgarter, weil viele Leute zwar ihre eingefahrenen Wege gehen, aber eben oft nicht rechts oder links schauen oder nicht im Entdeckungsmodus sind“, beschreibt der Verantwortliche Steffen Unverfehrt.

Durchgeführt von erfahrenen und mit dem einen oder anderen Gastro-Wasser gewaschenen Locals, können Teilnehmer den Stadtteil bei dieser „Tour der Sinne“ neu entdecken und erleben. „Es geht um deren Geschichte und Entwicklung. Deren Lebendigkeit heute – erzählt von den Menschen, die sie lebendig machen und bereichern.“ Gut, hier bekommt man keine Weltrekordfakten über den Fernsehturm oder königliche Anekdoten aus dem Neuen Schloss; dafür eine „Tour auf Augenhöhe“, wie Unverfehrt verspricht. „Man kann die Stationen der Tour danach in seinen Alltag einbauen, wenn man möchte. Dieser Blick auf scheinbar wenig Spektakuläres“, so ist er sich sicher, „macht das echte Leben in der Stadt aus.“

Stuttgart zum Vernaschen

Wer noch mehr Schlemmen beim Erkunden möchte, kann sich danach gleich für eine Schokoladenführung von k3 Stadtführungen anmelden: Ein Rundgang durch die Hochzeiten der Schokoladen-Hochburg Stuttgart im 19. Jahrhundert, als 1.000 Arbeitsplätze nur für Schokolade vorgesehen waren, abgerundet von heutigen Schokoherstellern und jeder Menge dunkler Kostproben.

Vergeistigter geht es auf den vielen Weinwanderwegen in der Region zu. Ob rund um Uhlbach oder das zermürbende, aber mit tollem Ausblick belohnende Gefälle am Schimmelhüttenweg: Stuttgart ist eben auch eine echte Weinstadt, bei der die Reben bis an den geschundenen Hauptbahnhof heranreichen.

Tote Mönche, kopflose Reiter

Schaurig geht es bei den Geisterführungen von Anette Ladovic zu. Sie hat sich den morbiden Seiten unserer Stadtgeschichte verschrieben und lehrt ihre Teilnehmer regelmäßig das Gruseln. „Wir erzählen auf unterhaltsame Weise bei unseren Touren in der Innenstadt und im Wald Sagen und Legenden sowie deren historische Hintergründe“, so umreißt die passionierte Geschichtenerzählerin ihre Tour kurz und knapp. Warum sie sich in ein langes schwarzes Gewand hüllt und das regelmäßig tut? „Viele Stuttgarter kennen zwar die Gebäude in ihrer Stadt; historische Fakten oder gar deren Legenden sind jedoch zumeist nur wenigen bekannt.“

Ihre Geisterführungen richten sich somit längst nicht nur an Touristen. Vor allem wir Stuttgarter dürften überrascht sein, wie viel Gespenstisches und Blutiges sich in unserer Stadt zugetragen hat. „Ich denke da immer gern an die Falsche Klinge im Buchwald unterhalb vom Fernsehturm“, legt sie los. „Zum einen sieht es dort, vor allem in der Abenddämmerung, immer noch sehr gespenstisch aus. Zum anderen finde ich es gruselig, dass man dort über Jahrhunderte Ehrlose – also Mörder, Selbstmörder und Henker – verscharrte.“ Wer darüber hinaus immer schon mal wissen wollte, wo in Stuttgart Mönche spuken und kopflose Reiter ihr Unwesen treiben, muss nicht weitersuchen.

Treppensteigen für Fortgeschrittene

Ebenfalls in der Dunkelheit, ebenfalls äußerst stimmungsvoll, dafür aber eine ganze Ecke weniger gespenstisch ist eine nächtliche Stäffelestour. Weniger anstrengend ist das stete Auf und Ab auf Stuttgarts ikonischen Treppenwegen zwar nicht, dafür sieht in der Dunkelheit immerhin niemand, wie rot man im Gesicht ist. Los geht‘s immer am Aufzug der Zahnradbahn-Haltestelle am Marienplatz, angeboten wird die Nachtschwärmertour allerdings nur von Oktober bis März. In der warmen Jahreszeit locken dafür die vielen anderen Thementouren, die rund um den Kessel treppauf, treppab führen und Stadtgeschichte neu erlebbar machen. Dicker Muskelkater inklusive.

Derzeit nur nach vorheriger Anmeldung und Terminabsprache möglich ist der Weltbewusst-Stadtrundgang durch Stuttgart. Statt auf Kulinarisches oder Historisches einzugehen, setzt man sich hier mit Nachhaltigkeit auseinander. Wo kommen sie eigentlich her, die Sachen, die sich in den Auslagen der beliebten Geschäfte tummeln? Will man ja manchmal gar nicht so recht wissen, ist ja aber doch irgendwie wichtig.

Was noch fehlt in dieser Runde? Ein wenig Kunst vielleicht. Auftritt Marco Daniel Stifel. Derzeit stellt der Künstler im Café Misch Misch einen kleinen Vorgeschmack auf sein Kunstprojekt aus, das er mit zwei weiteren Künstlern unternimmt: Künstlerspaziergänge durch die Stadt, künstlerisch festgehalten und danach individuell nacherlebbar.

Und jetzt? Urban Explorers nach vorn, Sneaker an, Kamera ready und losmarschiert. Die Stadt wartet.