Der Verband Region Stuttgart richtet eine „Route der Industriekultur“ im Filstal ein. Die StZ beleuchtet in zwei Teilen Vergangenheit und Gegenwart des Reviers.

Göppingen - Tief steht die Sonne an diesem herrlich frischen Frühlingsmorgen. Wärmende Strahlen fallen auf Helmut Junginger, der in dem kleinen Holzpavillon inmitten der historischen Arbeitersiedlung in Kuchen Platz genommen hat. Der 75-jährige Pensionär führt regelmäßig Gäste aus nah und fern durch seinen Heimatort, der – was viele heute nicht mehr wissen – im 19. Jahrhundert Industriegeschichte geschrieben hat. „Wir fahren lieber ins Ausland“, pflegt Junginger dann als Einleitung zu sagen, „dabei haben wir die größten Schätze direkt vor der Haustüre.“

 

Einer der Schätze, die der Heimathistoriker meint, ist jene denkmalgeschützte Arbeitersiedlung, die der Unternehmer Arnold Staub von 1857 an parallel zum Bau seiner Textilfabrik errichten ließ. Die alte Produktionshalle steht noch am Ufer der Fils und versprüht den Charme des Morbiden. Alsbald sollen die Bauarbeiter anrücken, um daraus ein Seniorenheim zu machen.

Die Arbeitersiedlung selbst aber ist fein herausgeputzt – und erinnert an Zeiten von industriellem Glanz im Filstal. Nach dem Konkurs der Firma Süddeutsche Baumwollindustrie, der Nachfolgerin der Staub’schen Werke, vor etwas mehr als zwanzig Jahren, wurde das gesamte Areal von der Gemeinde Kuchen gekauft und mit rund 20 Millionen Mark von Stadt und Land grundlegend saniert. Die pittoresken Häuschen im Landhausstil, die sich in Karree-Form um einen begrünten Platz anordnen, lassen ahnen, dass die Unterkünfte für damalige Verhältnisse weit über dem Standard lagen. Eine eigene Schule und eine Bücherei und ein Badehaus hat Staub unter anderem eingerichtet.

Geschichte wird erlebbar

Helmut Junginger lässt Bilder sprechen, die er auf eigens gefertigten Magnettafeln im Pavillon aufhängt. Dabei referiert er die Anfänge der Industrialisierung nicht nur – er lässt sie die Besucher förmlich nacherleben. Etwa den Umstand, dass es in Kuchen von jeher Hausweber gab, die in ihren Kellern – um die Fäden feucht zu halten – Tücher produzierten. Diese wurden später, nach einem 40-Kilometer-Fußmarsch, in Ulm an die Zunft verkauft. Es waren ärmlichste Verhältnisse, unter denen die Menschen lebten. Handwerk und Landwirtschaft warfen nicht allzu viel ab. Und so wurde es als Segen empfunden, als der Schweizer Staub beschloss, in Kuchen eine hochmoderne Baumwollspinnerei und -weberei aufzubauen. 460 Webstühle ließ der Fabrikant aus England hertransportieren, die in einer riesigen Halle aufgebaut wurden: damals einer der größten Websäle in ganz Europa. Nach kaum zehn Jahren hielten bereits 800 Mitarbeiter den Betrieb am Laufen. „Quasi über Nacht“, sagt Junginger, „war für Kuchen das Industriezeitalter angebrochen.“

Und nicht nur in dieser kleinen Gemeinde.

Wer sich mit der Geschichte des Landstrichs am Fuße der Schwäbischen Alb befassen will, muss hinaufsteigen zum Schloss Filseck zwischen Uhingen und Faurndau. Von dort oben bietet sich nicht nur ein herrlicher Blick über das Filstal. Dort residiert auch das Göppinger Kreisarchiv mit seinem Leiter Stefan Lang als intimem Kenner der örtlichen Historie. Entlang der gesamten Fils seien schon Ende des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert Fabriken nur so aus dem Boden geschossen, erzählt er – weil sich der Fluss, der auf der Alb rund zwei Kilometer südwestlich der Stadt Wiesensteig entspringt und nach 63 Kilometern bei Plochingen in den Neckar mündet, als ein idealer Energielieferant erwies. Dank des starken Gefälles von 377 Höhenmetern war die Wasserkraft enorm, die unter anderem die Firma Carl Beckh Söhne in Faurndau bei Göppingen nutzte. Aus einer einfachen Papiermühle entwickelte sich eine Firma, das schon 1830 zur maschinellen Fertigung überging. Die Brüder Rudolph (ein Kaufmann) und Adolf (ein Papiermacher) ließen aus England eine Maschine zur Herstellung von endlosem Papier kommen, nur in Heilbronn gab es damals eine ähnliche. Wie später Staub und andere Unternehmer waren auch die Beckhs sozial eingestellt. Sie richteten eine fabrikeigene Kranken- und Unterstützungskasse ein, bauten Arbeiterwohnungen und spendeten für Arme.

Herausragende Unternehmerfiguren

Die Industriegeschichte des Filstals ist reich an solch herausragenden Unternehmerfiguren und Episoden – so reich, dass sich der Verband Region Stuttgart und die Anrainerkommen schon vor geraumer Zeit entschlossen haben, der Vergangenheit auf einer Route der Industriekultur nachzuspüren. Bis Mitte Juno werden entlang des Flusses Stationen und Ankerpunkte eingerichtet, an denen Radler oder Flaneure Informationen über Firmen und Arbeitersiedlungen, Fabrikantenvillen und Wassermühlen an die Hand bekommen. Das Spektrum reicht von der Alten Spinnerei Heinrich Otto in Plochingen, die in das frühere Gartenschaugelände integriert ist, bis nach Wiesensteig zur früheren Söll-Mühle. Dabei steht die Entwicklung im südöstlichsten Zipfel der Region Stuttgart pars pro toto für eine im 19. Jahrhundert anhebende wirtschaftliche Dynamik im Ballungsraum Stuttgart insgesamt.

Die Annalen belegen, dass viele bis heute überregional ausstrahlende Firmen im Filstal ihre Anfänge in der Frühzeit der Industrialisierung hatten. Märklin beispielsweise, das sich als Hersteller von hochwertigen Spielzeugeisenbahnen nach schweren Zeiten berappelt hat; Schuler mit seinen Pressen, der Werkzeugmaschinenhersteller Boehringer, die Zinser’schen Acetylenwerke in Ebersbach, heute Albershausen, Bader, einer der führenden Hersteller für Autoleder – oder die Württembergische Metallwarenfabrik, die WMF.

Der Urvater des Unternehmens, Daniel Straub, gilt wegen seiner vielfältigen Aktivitäten als „zweiter Gründer“ der Stadt Geislingen und eigentlicher Wegbereiter der Industrialisierung im gesamten Filstal. Vor der örtlichen Stadtkirche erinnert eine Büste aus Bronze an ihn: Das Gesicht eher rundlich, die Züge weich, richtet sich der Blick in die Ferne. Ein großer Visionär war Daniel Straub, ein Macher vor dem Herrn. In seiner Metallwarenfabrik produzierte er Mühlen- und Sägewerkseinrichtungen, die reißenden Absatz fahnden.

Der Bau der Württembergischen Eisenbahnlinie

Zu den Erfolgen trugen tüchtige Ingenieure bei wie Ferdinand Decker – und ein Mann namens Gottlieb Daimler. Als Straub 1880 die Firma in eine Aktiengesellschaft umwandelte, zählte sie schon 350 Beschäftigte und nahm Pressen, Dampfmaschinen und Aufzüge ins Portfolio mit auf. Und auch mit seiner sogenannten Plaquefabrik, in der er Waren aus Kupfer und Messing herstellte – Teekessel, Leuchter, Laternen, Haus- und Küchengeräte –, lag er goldrichtig. „Durchsetzungsvermögen, Weitsicht und Wagemut“ zeichneten den Wirtschaftspionier aus, wie der Biograf Hartmut Gruber, Stadtarchivar in Geislingen, formuliert. Zur Jahrhundertwende war die aus den Straub’schen Werken hervorgegangene WMF zu einer Weltfirma mit 3750 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und eigener Glashütte herangewachsen.

Straub war durch eine kluge Heirat zu Geld gekommen. Bereits zuvor hatte sein Unternehmen beim Bau der Bahngleise an der Geislinger Steige mitgearbeitet, was ihm ein kleines Vermögen einbrachte – und die Chance eröffnete, in Fabriken zu investieren. Gerade der Bau der Württembergischen Eisenbahnlinie – von Cannstatt und Esslingen kommend durch die Oberämter Geislingen und Göppingen – war es, der dem Filstal von 1850 an den entscheidenden Fortschritt brachte. Mit der zunehmenden Nutzung von Dampfmaschinen und der per Bahn kostengünstigeren Einfuhr von Kohle gewann die Industrialisierung deutlich an Fahrt, die Städte wuchsen rasant. Göppingen zählte 1840 rund 5500 Einwohner, 1914 schon 22 000.

Am Übergang zum 20. Jahrhundert waren die Textil-, Papier- und Maschinenbauindustrie „die tragenden wirtschaftlichen Säulen im Göppinger Oberamt“, weiß Karl-Heinz Rueß, der Göppinger Stadtarchivar. Leder- und Kartonagenfabriken, chemische Betriebe, eine Gelatinefirma und diverse Bauunternehmen „trugen zur Branchenvielfalt bei“. Göppingen habe damals mit mehr als 100 Fabriken einen „Spitzenplatz unter den württembergischen Industriestädten eingenommen“.

Würde sich dieses hohe Niveau im Filstal halten lassen? Wie eng wirtschaftlicher Aufstieg und Fall bisweilen beieinanderliegen, musste Arnold Staub in Kuchen erfahren. Durch einen Großbrand in der Spinnerei geriet der hochverschuldete Betrieb 1876 in Schieflage – ein Kapitel, das Helmut Junginger bei seiner Führung nicht ausspart. Staub wurde zum Verkauf gezwungen und erholte sich nie mehr von dieser selbst empfundenen „Schmach“: Wenig später nahm er sich das Leben.

Die Route der Industriekultur

Ansatz:
Der Verband Region Stuttgart hat 2013 zusammen mit 16 Gemeinden im Filstal das Projekt einer „Route der Industriekultur“ aus der Taufe gehoben. Diese ist eingebunden in den Landschaftspark Filstal und soll die industrielle Vergangenheit und Gegenwart entlang des Flusses ins Bewusstsein rücken.  

Umsetzung:
Eingeweiht wird die Route Mitte Juni – und bietet sich dann auch als ein lohnendes Ausflugsziel an. Entlang des bestehenden Filstalradweges werden im Moment 18 Ankerpunkte eingerichtet und ausgeschildert. Es handelt sich dabei um besonders bedeutsame Orte der Industriekultur, an denen Führungen, Ausstellungen und Werksverkäufe geboten werden, häufig ergänzt durch gastronomische Angebote. Ausführliche Informationen über das Projekt finden sich auch im Internet unter www.industriekultur-filstal.de.