Wirtschaftskriminalität verursacht in Deutschland jährlich einen Schaden von 20 Milliarden Euro. Das zeigt eine neue Studie. Und: Die offiziellen Fallzahlen – die Polizei spricht von 100.000 Straftaten pro Jahr – sind wohl „nur die Spitze des Eisberges“.

Korrespondenten: Barbara Schäder (bsa)

Frankfurt - Wirtschaftskriminalität verursacht in Deutschland jährlich einen Schaden von 20 Milliarden Euro. Die häufig von eigenen Mitarbeitern begangenen Verbrechen kosteten die Unternehmen damit mehr als die Körperschaftsteuer von bundesweit 16 Milliarden Euro im vergangenen Jahr, schreibt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG in einer am Dienstag veröffentlichten Studie. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich bislang auf wenige spektakuläre Einzelfälle wie den Korruptionsskandal bei Siemens oder das Schneeballsystem des Millionenbetrügers Helmut Kiener. Doch KPMG geht auf Grundlage einer Umfrage unter 332 Unternehmen von bundesweit 675 000 Fällen pro Jahr aus.

 

Viele Unternehmen scheuen vor einer Anzeige zurück

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zählt dagegen rund 100 000 Wirtschaftsstraftaten. Die Diskrepanz kommt laut KPMG vor allem dadurch zustande, dass längst nicht jeder Fall zur Anzeige gebracht wird. Dass die offiziellen Zahlen „wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges“ sind, glaubt auch Dieter Vogel, Leiter des Kommissariats für Wirtschaftskriminalität bei der Polizei Frankfurt. Viele Unternehmen schreckten aus Sorge um ihren guten Ruf vor einer Anzeige zurück, sagt der Kriminalhauptkommissar, der am wichtigsten Finanzplatz Deutschlands seit 30 Jahren gegen Betrüger und Geldwäscher ermittelt. Denn: „Die Täter stammen fast zur Hälfte aus den Firmen selbst“, sagt Vogel. „Meistens sind es leitende Mitarbeiter, die langjährig in der Firma tätig sind.“

Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Schließlich haben leitende Angestellte am ehesten die Gelegenheit, größere Geldsummen abzuzweigen oder Bestechungsgeld zu verlangen. Häufig haben sie Zugriff auf Konten oder Einfluss auf die Auftragsvergabe. Und sie könnten ihre Taten vergleichsweise leicht vertuschen , sagt Vogel – selbst wenn mal ein Untergebener misstrauisch werde: „Wenn der Chef sagt, das hat schon seine Ordnung, dann kuschen natürlich auch manche Mitarbeiter.“

„Lizenz zum Gelddrucken“

Viele Großkonzerne haben das Problem mittlerweile erkannt und die internen Kontrollen verschärft. Früher, erinnert sich Vogel, hätten Mitarbeiter einiger Unternehmen praktisch eine „Lizenz zum Gelddrucken“ gehabt. Ein Vieraugenprinzip zur Kontrolle von Ausgaben habe es nicht gegeben – oder es war leicht zu umgehen. Ein Beispiel aus Vogels Erfahrungsschatz: Im Jahr 2000 schaffte ein Mitarbeiter einer großen Bank 15 Millionen Dollar beiseite, indem er das Geld auf das Konto eines Komplizen überwies. Zwar mussten Überweisungen nach den Sicherheitsregeln der Bank von einem zweiten Computer aus bestätigt werden, ehe das Geld fließen konnte. Doch die Mitarbeiter hatten, um sich die Arbeit zu erleichtern, ihre Passwörter untereinander ausgetauscht – der betrügerische Banker konnte sich deshalb problemlos an zwei verschiedenen Rechnern einloggen und die Transaktion durchziehen.

Weitaus länger brauchte die Frankfurter Polizei, um den Tätern auf die Schliche zu kommen. Denn die Bank versuchte es zunächst mit internen Ermittlungen, ehe sie mit einem Jahr Verzögerung Anzeige erstattete. Bis dahin waren die Millionen über Konten auf der ganzen Welt verteilt. Bis zur Verurteilung der Täter – der aus Großbritannien stammende Rädelsführer bekam eine Freiheitsstrafe von knapp acht Jahren – gingen weitere Jahre ins Land, Ermittlungen in Australien und Auslieferungsverhandlungen inklusive.

Langwierige Ermittlungen sind bei Wirtschaftsstraftaten keine Seltenheit. Das räumt auch Andreas Hohmann ein, der bei der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität in Frankfurt die Fachabteilung für Betrug und Geldwäsche leitet. „Wir bearbeiten ganz überwiegend Großverfahren, die komplex sind, wo man nicht auf Zuruf wie beim Straßenraub eine klar umrissene Tat hat“, sagt der Oberstaatsanwalt. Neben der Auswertung von Kontobewegungen seien teilweise auch Gutachten zur Rechtmäßigkeit strittiger Geschäfte erforderlich. „Es braucht seine Zeit, bis man ein Fundament hat, um dann Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchungsbeschlüsse zu erwirken.“ Dafür kann sich die Aufklärungsquote sehen lassen: Bei Wirtschaftsstraftaten beträgt sie laut Bundeskriminalamt 90 Prozent.

Allerdings kommen die Täter vor Gericht häufig mit einer Bewährungsstrafe davon – harte Urteile wie die elfjährige Freiheitsstrafe für den Flowtex-Betrüger Manfred Schmider sind selten. Dieser Umstand hat der Justiz den Vorwurf eingetragen, sie gehe zu milde mit den „White-Collar-Criminals“, den Angeklagten mit dem „weißen Kragen“, um.

Der auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisierte Professor Matthias Jahn von der Universität Erlangen widerspricht. „Die Behauptung, dass Wirtschaftskriminelle zu billig davonkämen, ist erst mal nur ein Vorurteil“, sagt er. Für die vergleichsweise geringen Strafen gebe es gute Gründe: „Es handelt sich regelmäßig um nicht vorbestrafte Ersttäter.“ Zudem seien an einem Betrugs- oder Korruptionssystem häufig mehrere Täter beteiligt, „so dass die kriminelle Energie des Einzelnen nicht unbedingt hoch ist“. Die Urteile müssten am konkreten Einzelfall gemessen werden.

„Beim Geld trifft man diese Täter mindestens genauso sehr“

Oberstaatsanwalt Hohmann betont, die Täter würden praktisch doppelt bestraft: „Wir versuchen auch, die Wirtschaftskriminellen beim Geld zu fassen, das heißt: die Erlöse abzuschöpfen. Damit trifft man diese Täter mindestens genauso sehr.“ Allein 2011 wurden von den Frankfurter Ermittlern Vermögen im Wert von 40 Millionen Euro vorläufig sichergestellt. Nach Abschluss der Verfahren geht ein Großteil dieses Geldes zurück an die Geschädigten. Da einige aber nicht auszumachen sind oder verzichten, profitiert auch der Staat: Im laufenden Jahr dürften dem hessischen Landeshaushalt allein durch die Aktivitäten der Frankfurter Staatsanwälte für Wirtschaftskriminalität und organisierte Kriminalität Millionen Euro zufließen. Und die Ermittler werden noch mehr zu tun kriegen, meint Hohmann: „Das Thema Geldwäsche ist noch ein großes Brachland, ähnlich wie die Korruptionsbekämpfung vor 20 Jahren.“