In der alten US-Stahlstadt Chattanooga hat ein Werk von Volkswagen alles verändert. Das Armenhaus hat sich zur Boomtown gemausert.

Chattanooga - Wenn Dale Cross an sein Leben vor vier Jahren zurückdenkt, kommt ihm vieles unwirklich vor, so als sei das ein anderer gewesen, der damals seinen Namen trug. Es war eine schlimme Zeit für Dale, er war am Ende einer Sackgasse angekommen. Seine kleine Baufirma außerhalb von Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee war pleitegegangen, niemand hatte mehr Geld zum Bauen. Dale konnte seine Hypotheken nicht mehr bedienen, nicht einmal die Krankenversicherung für seine drei Kinder bezahlen, geschweige denn einen Cent für ihre College-Ausbildung zurücklegen.

 

Heute ist Dale ein neuer Mensch. Er regiert souverän und zufrieden seinen kleinen Abschnitt in der riesigen, hochmodernen VW Werkshalle, keine 20 Kilometer nördlich von Chattanooga. „Ich bin dafür zuständig, den Fertigungsprozess zu optimieren“, sagt er stolz in seinem breiten Südstaatenamerikanisch. „Es ist ein guter Job, ich möchte hier alt werden“, sagt er.

Damals, als Dale keinen Ausweg mehr sah, gab es das VW Werk am Fuße der Appalachen noch nicht. Auf dem Gelände wucherte Efeu über die Reste eines alten Munitionsdepots. Die Stadt Chattanooga stand an einem Scheideweg. Die einsetzende Wirtschaftskrise drohte den zarten Aufschwung wieder zunichtezumachen, den die ehemalige Stahlstadt am Tennessee River erlebte. Die Region, die ohnehin zu den ärmsten der USA gehört, hatte in der Rezession sehr gelitten. Die Arbeitslosigkeit war auf 17 Prozent gestiegen, Schicksale wie die von Dale Cross waren die Regel.

Die Stadt hat sich zum Geheimtipp für Kreative entwickelt

Heute kann sich die Innenstadt von Chattanooga mit angesagten Großstadtbezirken wie Brooklyn in New York oder dem Mission District von San Francisco messen. In den Kontorhäusern zum Fluss hin sind elegante Restaurants und Cafés eingezogen. Das Ufer, noch vor wenigen Jahren von den Industrieruinen der Stahlzeit gesäumt, ist ein Sport- und Freizeitpark mit Ausblicken auf die umliegenden Berge. Eine Eisenbahnbrücke ist in eine Radfahrer- und Fußgängerpromenade umgewandelt worden, darüber thront der hypermoderne Glasbau des Aquariums.

Auf der anderen Flussseite haben sich in einem ehemaligen Handwerkerbezirk Internetunternehmen angesiedelt sowie Läden, die die Kreativen versorgen. Es gibt Biosupermärkte, Imbisse und Sportausstatter. Chattanooga hat sich unter den Jungen und Unternehmungslustigen in den vergangenen Jahren zum Geheimtipp entwickelt. Eine perfekte Mischung aus einem attraktiven Umland mit endlosen Wegen zum Wandern und Mountainbiken, guten Jobs sowie einem urbanen Leben. Als Jed Marston in den 60er und 70er Jahren hier aufwuchs, war Chattanooga noch eine andere Stadt. „Das Zentrum war vollkommen tot“, erinnert er sich. Am Fluss entlang pumpten die letzten Stahlgießereien Qualm in die Luft, die Hälfte der Kontorhäuser stand leer. Nach Sonnenuntergang war Chattanooga eine Geisterstadt. Heute ist Marston Vizepräsident der Handelskammer. Wenn er in seinem Büro an der Market Street sitzt und von der Verwandlung seiner Heimatstadt spricht, sprüht er geradezu vor Stolz. „Man kann mit Worten gar nicht alles beschreiben, was sich getan hat“, sagt er. Und das sei vor allem Volkswagen zu verdanken, ist sich Marston sicher.

Rund 5000 Arbeitsplätze sind seit der Eröffnung des Montagewerks im Mai 2011 geschaffen worden sowie mehr als 12 000 Jobs im Bereich der Zulieferindustrie. Noch wichtiger für die Zukunft von Chattanooga war jedoch die symbolische Kraft der Entscheidung, das Werk in der Stahlstadt im Herzen der Industrieregion Rust Belt zu platzieren, glaubt Jed Marston,. „Es war der Ritterschlag für Chattanooga“, sagt Marston, „das zieht internationale Firmen an.“ Der Effekt machte sich schnell bemerkbar. Amazon hat gegenüber dem VW-Werk ein großes Versandzentrum für die Region eingerichtet. Der deutsche Chemiekonzern Wacker kommt dieses Jahr. Der französische Pharmariese Sanofi-Aventis hat vor Ort eine Produktionsstätte gekauft.

Ein Lehrstück für den Rest der USA

Der Erfolg von Chattanooga könnte lehrreich sein für die krisengeplagte US-Wirtschaft. Seit Jahrzehnten klagen Experten, dass der Fertigungssektor, der traditionelle Motor der Wirtschaftsmacht USA, siecht. In Chattanooga ist er mit Hilfe von VW wiederbelebt worden und haucht gleich einer ganzen Region Leben ein. Das war jedoch kein Selbstläufer. Bevor VW 2008 Chattanooga den Zuschlag für seine erste nordamerikanische Fertigungsstätte seit 30 Jahren gab, hatte die Stadt gründlich ihre Hausaufgaben gemacht.

„Der Wendepunkt kam 1973“, erinnert sich Jed Marston. Damals hatte es ein Fernsehteam des Nachrichtensenders CBS nach Tennessee verschlagen, und der beliebte TV-Reporter Walter Cronkite kürte Chattanooga vor qualmenden Schloten stehend zur „schmutzigsten Stadt der USA“. Es war eine Blamage, die die Leute von Chattanooga nicht auf sich sitzen lassen wollten.

Natürlich war den Stadtoberen und den Vertretern der Stahldynastien schon lange klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Stahlindustrie war in ganz Nordamerika im Niedergang begriffen. Die alten Werke, die zumeist für den Eisenbahnbau nach dem Bürgerkrieg entstanden waren, waren längst nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Politik verlangte teure Umweltauflagen, der globale Wettbewerb tat sein Übriges.

Deutsche Fussballer und deutsches Bier

Was dann passierte, taugt vortrefflich als Lehrstück für das zerstrittene Washington und die gesamte zerrissene Nation. Alle Kräfte der Stadt, die Industriebarone sowie die Politiker beider Lager, setzten sich an einen Tisch und arbeiteten einen Plan zur Revitalisierung der Kommune aus. „Es war außergewöhnlich“, sagt Jed Marston, „wir haben alle an einem Strang gezogen.“

Stiftungen wurden gegründet, Public-Private-Partnerships ins Leben gerufen, um die Industriewüste aufzuräumen, zu der die Stadt verkommen war. Die Fabriken wurden modernisiert, Brachen wurden zu Parks umgewandelt, Flüsse gereinigt. „Man konnte plötzlich die Berge sehen, die Jahrzehnte lang in schwarze Wolken gehüllt waren“, sagt Marston.

Mitte der 90er Jahre war das Großreinemachen abgeschlossen. Danach ging es daran, Investoren einzuladen. Wieder herrschte verblüffende Einigkeit. Obwohl es der nationalen Ideologie der republikanischen Partei diametral widersprach, waren die konservativen Politiker sich mit den Demokraten einig, dass die Regierung kräftig mithelfen musste, um Arbeitsplätze zu schaffen. So beschwerte sich niemand, als Chattanooga Volkswagen Steuererleichterungen und andere Hilfen im Wert von 500 Millionen Dollar sowie ein Werksgrundstück zusagte – nicht einmal die örtlichen Mitglieder der Tea-Party-Bewegung. „Ich denke, das war gesund“, sagt Brendan Jennings, ein Mitbegründer der Tea Party Chattanooga. „Man muss etwas hergeben, um etwas zu bekommen.“ Jennings hat sich selbst gerade einen brandneuen Passat, einer von rund 230, die täglich vom Förderband laufen, gekauft.

VW vermeidet einen kolonialen Stil

In der VW-Konzernleitung wusste man die Bemühungen zu schätzen. „Wir hatten den Eindruck, dass man uns wirklich haben will und bereit ist, alles dafür zu tun“, sagt Werksleiter Frank Friedrich, der darauf besteht, zu Fuß durch die Werkshallen zu laufen, statt mit dem Elektrowagen zu fahren – und der noch vom letzten Monteur beim Vornamen genannt werden will. Dieses Gefühl, den roten Teppich ausgerollt zu bekommen, sei noch wichtiger gewesen als die konkreten finanziellen Anreize.

Natürlich hat sich VW – ebenso wie die japanischen Mitbewerber – nicht nur für den amerikanischen Süden entschieden, weil die Menschen so gastfreundlich sind. Die Kombination aus einem Zugang zum größten Markt der Welt und einem niedrigen Lohnniveau in einer verarmten Gegend ist unwiderstehlich. So zahlt VW in Chattanooga mit 14,50 Dollar den geringsten Einstandslohn in den gesamten USA.

Das hat Dale Cross und 35 000 andere nicht davon abgehalten, sich auf die ersten 1200 Jobs zu bewerben, die VW 2008 ausschrieb. Der Konzern wurde in Tennessee so stürmisch begrüßt wie das Rote Kreuz in einer Hungerregion.

Doch trotz ihrer Machtposition geben sich die Deutschen die größte Mühe, nicht aufzutreten wie Kolonialherren. Man engagiert sich in allen Bereichen des städtischen Lebens: vom örtlichen Radrennen bis zum Musikfestival. Vor allem aber baut der Konzern in Zusammenarbeit mit der Universität ein duales Ausbildungsprogramm nach deutschem Vorbild auf, das den Facharbeitermangel im Süden beheben soll. Egal, ob die neuen Fachkräfte dann bei VW bleiben oder nicht.

Der deutsche Einfluss nach nur vier Jahren ist enorm. Die VW-Modelle machen den Cadillac und Chevrolet im Verkehr an der Market Street Konkurrenz. Beim Joggen am Tennessee River sieht man mehr Schweinsteiger-Trikots als Shirts örtlicher Football-Helden. In der Brewhaus Bar, die 2011 in der Stadt eröffnet hat, stehen „Glockenspiel Burger“ und „Southern Style Obazda“ auf der Karte. Sein Lieblingsbier, sagt Barkeeper Vincent Hawkins, sei ein deutsches. Drei Mal setzt er an, bevor man ihn versteht: Weihenstephaner Dunkel. Hawkins lässt es sich schmecken.