Wenn Wladimir Klitschko an diesem Samstag gegen Tyson Fury in den Ring steigt, ist das wieder einmal ein Festtag für das Boxen. Aber der 39-Jährige ist der letzte Regent seiner Branche.

Sport: Heiko Hinrichsen (hh)

Stuttgart - Was die Faszination des Profiboxens in seinem Kern ausmacht, das hat der StZ-Autor Bertram Job neulich vorzüglich in einer Kurzgeschichte beschrieben. In seinem Buch „Gebrauchsanweisung fürs Boxen“ widmet der Reporter Job das erste Kapitel einem zufälligen Treffen mit Luis, einem leidenschaftlichen Bewunderer des Faustkampfes. Der Exilkubaner und Box-Anhänger ist Kellner in einem Café in der Upper West Side von New York, das der deutsche Journalist anlässlich seiner Reise nach Manhattan zum WM-Kampf zwischen Wladimir Klitschko und Calvin Brock im November 2006 besucht.

 

Beim Namen Klitschko, dem abendlichen Hauptkämpfer im Madison Square Garden, winkt Luis sofort ab. „Ich habe schon ganz andere Boxer gesehen“, erklärt er seinem Gast, „zum Beispiel Roberto Duran. Er war mein Freund.“ Dann serviert der Kellner seine Geschichte: Es ist viele Jahre her – Luis steht gerade am Pissoir eines Hotels, um seine Blase zu entleeren, als sich der große Champion, den sie „Mano de Piedra“ (steinerne Hand) nennen, neben ihn stellt. Ob Roberto ihm einen großen Gefallen tun könne, fragt Luis, por favor, schließlich seien sie ja Amigos. Er will die Hoden des Mannes anfassen, der so unendlich viel Mut besitzt. „Roberto hat sich kurz nach rechts und links umgeschaut“, erzählt der Ober dem Reporter, „keiner da. Dann hat er gesagt: ‚Okay, mach schnell!‘“

Wenn sich Wladimir Klitschko am Samstagabend aufmacht, um vor 50 000 Fans in der Düsseldorfer Fußballarena in den Ring zu steigen, werden intime Eingriffe nicht nötig sein. Plötzlich ist er von alleine da, dieser elektrisierende Augenblick, der die johlende Meute in der Arena in Ekstase versetzt. Schließlich gibt es auch für Dr. Steelhammer im Angesicht des unbesiegten Giganten Tyson Fury, einem 2,03-Meter-Koloss aus England, der in einem Wohnwagen logiert und sich der „Gipsy Warrior“ nennt, keine Ausreden. Dann geht es Schlag auf Schlag – K.o.-Sieg oder Krankenhaus? Eben jener Klitschko, dem der berühmteste US-Boxkommentator Larry Merchant, die Legende des TV-Bezahlsenders HBO, nach seinen letzten Niederlagen gegen Corrie Sanders (2003) und Lamon Brewster (2004) vorwarf, ein „Mister no balls“ (Mann ohne Eier) zu sein, derselbe Klitschko wird dann für Schlagkraft, Technik und Mut bewundert – und ob seines vermeintlichen Heldentums von einigen sogar verehrt.

Boxen war hinter Fußball mal die Sportart Nummer zwei

Weil die Melange aus Show und Sport stimmt, welche die Nummerngirls und einige Damen im Publikum mit ihren üppigem Dekolletés noch mit einem Schuss Erotik würzen, ist das Profiboxen in Deutschland hinter König Fußball lange die Nummer zwei gewesen. Große Kämpfe hat das Land gesehen in der Ära des Gentleman Henry Maske, des ewigen Zweiten Axel Schulz, von „Tiger“ Dariusz Michalczewski, dem „Phantom“ Sven Ottke, von „Rocky“ Graciano Rocchigiani, Luan Krasniqi, Regina Halmich, Felix Sturm, Arthur Abraham oder den Klitschko-Brüdern. Mit 18,03 Millionen Fans am Fernseher hält der WM-Kampf von Axel Schulz gegen den „Weißen Büffel“ Frans Botha noch heute den absoluten Quotenrekord beim Privatsender RTL. Denn Boxen fasziniert die Sportfans quer durch alle Schichten.

Und dann waren da ja die noch diese beiden umtriebigen Promoter Wilfried Sauerland und Klaus-Peter Kohl, denen es als Chefs ihrer florierenden, auf erbitterte Konkurrenz ausgelegten Boxunternehmen Sauerland Event und Universum gelungen war, das Schmuddelimage der Achtziger Jahre abzustreifen. Wo sich früher etwa Kiez-Legende Kalle Schwensen, die Hells Angels oder Bandidos sowie diverse Rotlichtgrößen begrüßten, da hielten unter der Regie von Sauerland, der mit dem Vertrieb von Getränke-Abfüllanlagen in Afrika erste Millionen machte, sowie dem Hamburger Imbisskönig Kohl bald die Stars und Sternchen aus Film und Fernsehen, aus Rock und Pop Einzug. Die Schauspielerin Uschi Glas etwa zählt bei den Deutschland-Auftritten der Klitschkos ebenso zum festen Inventar wie Ringseile, Pausenglocke, Vaseline, Kühleisen und die spezielle Wasser-Adrenalin-Mischung im Verhältnis 1:1000, mit der mittels Wattestäbchen die Blutung bei größeren Risswunden, den so genannten Cuts, gestoppt werden.

Als sich Graciano Rocchigiani 1988 in der Düsseldorfer Philips-Arena durch einen K.o.-Sieg über Vincent Boulware zum dritten deutschen Weltmeister nach Max Schmeling und Eberhard Dagge durchboxte, da übertrug RTL zwar bereits live. Noch aber hatten längst nicht alle deutschen Haushalte Kabelfernsehen. Als es nach dem Kampf noch Zoff wegen der Börse für den streitbaren „Rocky“ gab, da zogen sich die Kölner schnell wieder vom Ringgeschehen zurück. Ein nachhaltiger Höhenflug setzte erst mit der deutschen Einheit und dem Olympiasieger Maske (1988) als Galionsfigur ein. Maske kämpfte zwar wenig spektakulär, kam aber beim breiten Publikum auch mit Art und Aussehen an. „Das Boxen hat ja etwas ganz Spezielles“, sagt das Halbschwergewicht, inzwischen Besitzer von zehn McDonald’s-Filialen: „Es wird geliebt oder gehasst – aber von den meisten gerne angeschaut. Die meisten Leute haben zwar nicht den Mut, selbst zu boxen, lassen sich aber gerne von der Dramatik einfangen.“

Champions wachsen nicht auf den Bäumen

Es folgten daher zehn bis 15 goldene Jahre, in denen auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen gar nicht genug vom Boxen bekam. Denn es garantierte am späten Samstagabend sehr gute Quoten. So zahlte etwa das ZDF in Spitzenzeiten jährlich bis zu 20 Millionen Euro an seinen Partner Universum. Irgendwann war das Rad jedoch überdreht. Die Boxställe, die per Vertrag bis zu 15 Kampfabende pro Jahr auszurichten hatten, verfügten ja gar nicht über so viele Spitzenboxer, wie man sie gebraucht hätte. Die Folge: mittelmäßige Fighter wurden ins Rampenlicht geschubst – und ihre Kämpfe gegen zweifelhafte Konkurrenz zu Megasportereignissen hochgejazzt.

Aber große Champions wachsen nicht auf den Bäumen. Um einen Boxer in der Weltspitze zu etablieren, braucht es neben einem geschulten Auge für vorhandenes Talent vor allem eines: Geld. Mindestens fünf Jahre muss der Promoter investieren, also ein Gehalt, den Trainer, das Gym, die Sparringspartner, Trainingslager und die Börsen für sorgsam ausgewählte Gegner bezahlen, um einen erfolgreichen Amateur im Profigeschäft an die Spitze zu führen.

Um letztlich einen Weltmeister oben zu halten, ist ebenfalls ein geschicktes Management erforderlich. Und so kam es, dass der inzwischen seit elf Jahren unbesiegte Wladimir Klitschko neben einigen härteren Brocken wie David Haye über die Jahre auch einige komplett überforderte Witzfiguren wie Jean-Marc Mormeck, Mariusz Wach oder Alex Leapai vor die Fäuste bekam. Für diesen Samstagabend ist die Hoffnung nun so groß wie lange nicht mehr: Weil der englische Herausforderer das Boxen quasi mit der Muttermilch aufsog, weil ihn der Vater nicht aus einer Laune heraus Tyson nannte, einer eigenwilligen Hommage an Mike Tyson, und weil Mister Fury authentisch ist – und zumindest unverkrampft wirkt, hoffen die Fans mal wieder auf einen Höhepunkt.

Denn es ist viel kaputt gemacht worden im professionellen Faustkampf, wo etwa das Frauenboxen auf großer Bühne nur ein Intermezzo blieb. Gierige Promoter und quotengesteuerte Fernsehsender haben den Niedergang dieser Sportart befeuert. Wladimir Klitschko ist aktuell der einzige in Deutschland aktive Boxer von Weltformat. Doch Dr. Steelhammer ist 39 Jahre alt. Wenn er abtritt, droht der Kollaps. ARD und ZDF haben sich längst verabschiedet und dafür gesorgt, dass die Liebhaber der „Sweet Sciene“ mit Großmäulern wie Vincent Feigenbutz auf Sat 1 zurück bleiben.

Der 20 Jahre junge Feigenbutz ist ein durchaus talentiertes Supermittelgewicht, das Sprüche klopft wie einst Muhammad Ali – mit dem Unterschied, dass sich „The Greatest“ mit Größen wie Joe Frazier und George Foreman epische Schlachten vor einem Milliardenpublikum lieferte. Und „Prince Vince“, der kämpft das nächste Mal am 9. Januar in Offenburg.