Täglich werfen Supermärkte Lebensmittel weg. Dass diese noch oft genießbar sind, beweisen die Konsumverweigerer Lukas und Eva.

Tübingen - Die grün-weißen Schimmelhaare am Tonnendeckel wiegen sich im Wind. Lukas steht breitbeinig vor einer braunen Mülltonnen. Er krempelt die Ärmel hoch und greift hinein. Als liege ein Sack Gold auf dem Boden, packt er, was er kriegen kann, und wirft es in die leere Tonne nebenan. Oben liegen matschige Salatköpfe, darunter Karotten, dazwischen Erde und ranzige Milch. Die nächste Schicht riecht wie ein beim Picknick vergessener Fruchtsalat: faule Erdbeeren, offene Pfirsiche, zerquetschte Orangen. Bei einer Honigmelone mit braunen Flecken hält Lukas inne, führt sie zum Ohr, klopft mit den Fingerknöcheln dagegen und legt sie behutsam vor sich auf den Boden. Ein paar Meter neben Lukas schaltet Eva ihre Stirnlampe ein. Sie hängt kopfüber in einem großen, grünen Rollcontainer. Ihre kurzen Beine ragen in den Hinterhof. Auf ihrem Arm kleben die Reste einer Banane.

Es ist kurz nach 20 Uhr in Tübingen. Der Supermarkt, in dessen Müll sie wühlen, schließt erst in zwei Stunden: Sie könnten dort einkaufen, weder Lukas noch Eva sind arm. Das Kindergeld, das ihnen ihre Eltern überweisen, reicht zum Leben. Ab und zu jobben sie bei einem Bäcker. Sie haben kaum Ausgaben. Am meisten sparen sie beim "Containern", wie sie die abendliche Essenssuche im Müll der Supermärkte nennen. "Wenn ich nicht mehr containern könnte, müsste ich eben mehr arbeiten gehen", sagt Lukas, "da hab ich aber keinen Bock drauf, solange gutes Essen einfach weggeschmissen wird." Die Lichtkegel der vorbeifahrenden Autos huschen über den Hinterhof wie die Barcodeleser über die Waren im Inneren des Supermarktes. Vom Geplauder der voll bepackten Kunden am Eingang dringt nur ein undeutliches Hallen. Lukas und Eva leben von dem, was Supermärkte ihren Kunden nicht mehr anbieten möchten.

Berliner werfen mehr Brot weg als die Stuttgarter essen


Und das ist eine Menge. Die Universität für Bodenkultur in Wien hat nachgewiesen, dass in Österreich jedes fünfte Brot auf dem Müll landet. Das heißt auf Deutschland übertragen, dass in Berlin jeden Tag mehr Brot weggeworfen wird als in Stuttgart gegessen wird. "Bei Obst und Gemüse sieht das nicht besser aus", sagt Jan Kummerfeld von der Initiative gegen Lebensmittelvernichtung. Die Schuld sieht er auch bei den Kunden: "Die beschweren sich, wenn sie ein Produkt eine Minute vor Ladenschluss nicht mehr im Regal finden – und am nächsten Tag wollen sie wieder was Frisches." Kummerfeld ist politischer Aktivist. Früher hat er containert, heute fehlt ihm die Zeit dazu.

Wenn die Sonne untergeht und die Container gefüllt werden, machen sich Lukas und Eva auf den Weg. Seit vier Jahren, ein paar Mal die Woche. Sie haben Routine. "Im ersten Jahr war das noch eine Guerilla-Aktion", erinnert sich Lukas und ein Lächeln huscht über seine gepiercten Lippen. Ein paar dicke Dreadlocks hängen dem angehenden Sozialpädagogen über die Stirn. "Damals haben wir Türen ausgehoben und sind über Zäune geklettert – manche haben sich sogar vermummt", sagt der 28-Jährige. Die wilden Zeiten sind vorbei.

Containergruppen in Tübingen kommen sich nicht die Quere


Eva hat ihren Containertauchgang beendet und leuchtet mit der Stirnlampe in die kleinen Mülltonnen daneben. Während vorne die Kundschaft Geld gegen Waren tauscht, kniet Lukas vor dem kümmerlichen Haufen, den er zu seinen Füßen angelegt hat und dessen erdig-süßlicher Geruch an den Biomüll einer WG erinnert, die ihren Putzplan nicht einhält. Die Ausbeute ist mager. Ein paar Möhren, vier braune Bananen und eine Melone – mehr war nicht zu holen.

Auf Lukas und Eva warten fünf hungrige Mitbewohner und Freunde. Heute gehen die beiden auf die Jagd nach Essbarem, in ein paar Tagen ihre Mitbewohner. Zusammen sind sie eine von vier festen Containergruppen in Tübingen. In die Quere kommen sie sich nicht. "Beim Containern sind die meisten solidarisch", erklärt Eva, "jeder nimmt so viel er braucht."

Juristisch gesehen begehen Eva und Lukas Diebtstahl


Bevor sie weiterziehen, räumen sie auf: Wenn es nach der Futtersuche so aussieht wie vorher, dann gibt es keinen Ärger. Streng genommen handelt es sich bei dem Müll, den Lukas und Eva mitnehmen, um Eigentum des Supermarkts – juristisch gesehen begehen sie also Diebstahl. Deshalb möchten sie ihren richtigen Namen auch nicht in der Zeitung lesen. Vor ein paar Jahren gab es in Tübingen bereits ein Gerichtsverfahren gegen einen Mülldieb – seitdem vermeiden es Lukas und Eva aufzufallen.

Containern ist für Lukas "der Ausstieg aus der Wegwerfgesellschaft", in der Supermarktgemüse samstagabends in die Tonne wandert, weil die Kühlung über den verkaufstoten Sonntag nicht rentabel ist. Mancher Einzelhändler spendet einen Teil des Überschüssigen an die Tafeln. Doch Lukas und Eva beziehen kein Geld vom Staat und sind damit nicht berechtigt, bei dem gemeinnützigen Verein einzukaufen. Für die beiden Mülltaucher gibt es aber noch genug Supermärkte, die nicht mit den Tafeln zusammenarbeiten. "Diese Läden fürchten einen Konsumverlust", sagt der Aktivist Jan Kummerfeld. "Die wissen ganz genau: Jeder noch so Arme braucht Essen und wenn er das von der Tafel bekommt, dann kauft er es nicht mehr im Discounter."