In den Wohngruppen des Behindertenzentrums Plieningen leben 35 Menschen. Sie gehen tagsüber zur Arbeit. Abends gehen sie ihren Hobbys nach oder ruhen sich einfach aus vom Alltagsstress.

Plieningen - Aus einem Zimmer auf der dritten Etage tönt „Amazing Grace“. Das bekannte Kirchenlied aus dem 18. Jahrhundert stammt nicht von der Konserve. Stefan Schlee steht vor seiner Veeh-Harfe und zupft die Töne. Das Instrument wurde Ende der 80er-Jahre für Menschen mit dem Down-Syndrom entwickelt. Die Veh-Harfe macht Stefan Schlee das Spielen leichter. Vor allem die Noten sind einfach zu lesen. Das Notenblatt wird direkt unter den Saiten angebracht. Schlee kann also auf das Blatt schauen und gleichzeitig die Saiten zupfen. Außerdem haben die Notenknöpfe jeweils eine bestimmte Form. „So kann ich sehen, ob ich eine Note schnell oder langsam spielen muss“, sagt er.

 

Der Mann lebt in einer betreuten Wohngruppe, die vom Behindertenzentrum Stuttgart (BHZ) betrieben wird. Die Diakonische Einrichtung arbeitet in der ganzen Landeshauptstadt. In der Hinteren Schafstraße in Plieningen gibt es seit 25 Jahren ein Gebäude, in dem das BHZ Behinderten eine vorübergehende oder dauerhafte Bleibe bietet. Stefan Schlee lebt seit Jahren in der Einrichtung in Plieningen. Tagsüber arbeitet er in der BHZ-Werkstatt im Fasanenhof in Möhringen. So wie die meisten der derzeit 35 Bewohner.

Tätigkeiten in der Wohngruppe

Nachmittags gegen 16 Uhr hat er Feierabend. Eine Minibus rollt dann vor der Werkstatt an und bringt ihn und andere Bewohner zurück nach Plieningen. Der Abend gehört nun Stefan Schlee, und er kann machen, was er will. Fast – denn er hat in der Wohngruppe auch einen Dienst zu erledigen. An einem Schwarzen Brett steht, wer für welche Tätigkeit eingeteilt ist. Schlee kümmert sich um den Getränkenachschub. Mit seinen kräftigen Armen fällt ihm das Kistenschleppen nicht schwer. „Ich mache das gerne“, sagt er. Stefan Schlee schaut in der Küche nach, prüft wie viele Mineralwasserflaschen noch im Kasten stehen. Offenbar scheint der Durst am vorherigen Tag nicht so groß gewesen zu sein. Denn in den Kästen finden sich kaum leere Flaschen. Stefan Schlee muss nun nicht in den Keller, um Mineralwasser zu holen. Er hat jetzt noch viel Zeit bis zum Abendessen. Die verbringe er am liebsten mit dem Veh-Harfe-Spielen, sagt er.

In der Wohngruppe ist es am Abend ruhig. Die meisten Bewohner ziehen es offenbar vor, sich vor dem Abendessen noch mal auszuruhen und etwas Zeit für sich zu haben. In der Werkstatt arbeiten sie ins Teams zusammen. Jetzt nach Feierabend gehen viele offenbar getrennte Wege. Eine Bewohnerin drückt es so aus. „Es tut auch mal gut, sich verkrümeln zu können“, sagt sie und meint damit wohl, dass nach getaner Arbeit in der Gruppe nun erst mal die Zeit sei, sich etwas Privatsphäre zu gönnen.

Lieber gemeinsam in den Feierabend

Nicht alle Bewohner schätzen aber das Alleinsein nach der Arbeit. Rebecca Bechtel und Jasmin Friedmansky sind mit ihren E-Rollies auf den Hof vor das BHZ-Gebäude gefahren. Sie seien gute Freundinnen, sagen sie und halten sich einen Moment an den Händen. Auf der Bank vor ihnen sitzt der Mann einer Mitarbeitern mit dem Baby. Jasmin Friedmansky darf es auch mal auf den Schoß nehmen. Die beiden Frauen wollen noch ein wenig Luft schnappen vor dem Abendessen. Manchmal fahren sie mit ihren E-Rollis in den Plieninger Ortskern und kaufen noch ein wenig ein. Doch die Julischwüle drückt. Da ist der Weg zur Filderhauptstaße zu anstrengend.

Jasmin Friedmansky ist froh, dass sie einen elektrischen Rollstuhl hat. Früher habe sie die Hilfe eines anderen benötigt, um die Steigung zu bewältigen. „Auch für mich war das anstrengend, weil ich mit den Armen mitschieben musste“, sagt sie. Die größere Mobilität mithilfe des E-Rollis ist nicht zuletzt auch ein Stück Unabhängigkeit von der Wohngruppe. Ohne Unterstützung durch einen BHZ-Mitarbeiter durch den Alltag zu kommen – zumindest für eine kurze Spazierfahrt entlang der Filderhauptstraße – , das ist etwas, was das BHZ mit allen Mitteln unterstützt. Joachim Ziegler, Leiter der BHZ-Wohngemeinschaft Plieningen und des Wohnheims Birkach, unterstreicht, dass schon lange nicht nur eine möglichst optimale Versorgung Ziel in der Betreuung von Behinderten sei. „ Es geht darum, Behinderte in das gesellschaftliche Leben zu integrieren – soweit es eben möglich ist“, sagt er. Inklusion lautet das Stichwort.

Eigenständigkeit lautet das Ziel

Auch in der Wohngemeinschaft an der Hinteren Schafstraße gibt es Apartments für Bewohner, die eine größere Unabhängigkeit wünschen und für diese auch gerüstet sind. Die Bewohner würden oft nur am Wochenende mit den anderen in den Wohngruppen speisen. „Unter der Woche machen die ihr Abendbrot und Frühstück selbst und kaufen auch alleine ein“, sagt Stefan Schlee. Viele Bewohner würden nach einigen Jahren in der Wohngemeinschaft in kleinere Wohneinheiten außerhalb wechseln. Dann haben sie die Dinge gelernt, die sie benötigen, um möglichst eigenständig den Alltag zu bewältigen.

Aber es gibt auch Bewohner, die nach Jahrzehnten in der Wohngemeinschaft inzwischen dort als Senioren leben. Eine ältere Frau sitzt im Hinterhof. Neben sich hat sie ihr Strickzeug, im Mund einen Lutscher, Es wirkt, als wolle sie am liebsten ungestört sein und ihrem Hobby nachgehen. Die Frau redet auch nicht viel. Sie sagt dann aber doch, dass sie nur noch ein Jahr in der Werkstatt im Fasanenhof arbeiten wird. Danach wird sie auch tagsüber Zeit haben, sich in den Hof zu setzen, zu stricken und dabei nach Herzenslust einen Lolli zu lutschen. Entweder ganz in Ruhe für sich allein oder vielleicht doch zusammen, mit Menschen, mit denen sie gemeinsam alt geworden ist.