Ein fast 80-Jähriger muss seine Wohnung räumen, weil das Immobilienunternehmen Pflugfelder bauen will. Wo er künftig unterkommen soll, weiß der Mann nicht.

Kornwestheim - Die einen haben für viel Geld ein Grundstück in bester Kornwestheimer Lage gekauft, wollen dort bauen und so einen satten Gewinn machen. Die anderen wohnen seit Jahrzehnten an dieser Stelle in einem 1911 gebauten Haus, haben hier ihre Kinder groß gezogen, ihre Enkel betreut, im Garten gewerkelt und die Wohnung auf Vordermann gebracht. Jetzt müssen sie raus. Sie müssen eine neue Bleibe suchen, und, wenn sie keine finden, vielleicht sogar in die Obdachlosenunterkünfte in der Aldinger Straße ziehen. Auf dem Gelände an der Kornwestheimer Weimarstraße, ganz in der Nähe vom Rewe und dem Pfarrhaus der Johannesgemeinde, prallen zwei Welten aufeinander.

 

Zwangsräumung steht ins Haus

Als Erstes könnte es einen alten Mann treffen, halb taub ohne sein Hörgerät, der deutschen Sprache kaum mächtig, aber Kornwestheim aufs Engste verbunden. Ali Abderahman Ali, der im Januar seinen 80. Geburtstag begehen wird, steht die Zwangsräumung ins Haus. Seiner Situation war er sich lange nicht bewusst, ist er sich wohl immer noch nicht. „Ich habe doch immer gearbeitet, ich habe nichts Schlechtes getan“, sagt er in gebrochenem Deutsch – als wäre das ein Argument.

Ali stammt aus Casablanca, der berühmten Stadt in Marokko, und er stammt aus einer anderen Zeit. Im Jahr 1968 kam er nach Deutschland, seit über 30 Jahren wohnt er in dem alten Haus, das 2015 an die Firma Pflugfelder verkauft wurde. Seine Miete hat er alle zwei Monate gezahlt – gerne mal in bar auf die Hand, auch etwas verspätet, wenn gerade das Geld knapp war. Ali, der früher bei der Firma Babcock gearbeitet hat und 25 Jahre lang Gewerkschaftsmitglied war, bekommt keine üppige Rente. 729 Euro seien es, erzählt er. Aber er hatte ja eine günstige Wohnung und der Vermieter war kulant. Erst drückte der Marokkaner dem Vater das Geld in die Hand, dann dem Sohn.

Gütetermin vor Gericht errungen

Am Montag dieser Woche landete der Fall Weimarstraße vor dem Amtsgericht. Es ging um die Nachbarn von Herrn Ali, denen ebenfalls im Juli 2016 gekündigt worden war und die ihre Wohnung räumen sollen. Nur: Sie setzten sich zur Wehr und errangen so einen Gütetermin. Ali Abderahman Ali hingegen hatte sich nur unsichtbar gemacht.

„Ich bin aus Marokko nach Deutschland gekommen, um Ordnung zu haben“

Die Post von Pflugfelder verstand er nicht, auf das Klingeln an der Tür reagierte er nicht – vermutlich, weil er sein Hörgerät ausgeschaltet hatte. „Wir dachten schon, er sei ausgezogen“, sagt Gesellschafter Julian Pflugfelder, der für das Projekt in Kornwestheim zuständig ist. Vor dem Amtsgericht sprach Geschäftsführer Ulrich Wünsch davon, dass Ali seit 2016 seine Miete nicht mehr zahle, wodurch das Objekt noch weniger rentabel geworden sei. Um diese Behauptung zu widerlegen, legt Abderahman Ali Überweisungsträger über jeweils 400 Euro vor: Vom 15. Februar 2016, vom 28. April 2016, vom 22. Dezember 2016. Zwei Mieten habe er vergessen zu überweisen, erzählt der 79-Jährige, aber er habe im Nachhinein das Geld persönlich übergeben. „Ich mache so etwas nicht“, sagt er, wie immer lächelnd. „Ich bin aus Marokko nach Deutschland gekommen, um Ordnung zu haben. Ich zahle meine Miete.“ Seine Nachbarn konnten sich am Montag nicht mit Pflugfelder einigen. 10 000 Euro als Umzugshilfe und einen Auszug Ende Januar 2018 hatte der Richter als Kompromiss vorgeschlagen.

Die Beklagten forderten 120 000 Euro und die Erlaubnis, bis Ende März in ihrer Wohnung zu bleiben. Schließlich lebten sie dort schon seit 43 Jahren, hätten viel selbst renoviert und umgebaut und seien inzwischen alt und gesundheitlich angeschlagen. Eine neue Wohnung zu finden sei zudem schwer, argumentierte der Anwalt der Mieter. „So etwas habe ich noch nie gehört“, echauffierte sich daraufhin Wünsch, die verlangte Summe entspräche rund 30 Jahresmieten – die Einigung scheiterte. Das Gericht muss nun abwägen zwischen dem Ansinnen der Mieter und dem Wunsch nach einer wirtschaftlicher Verwertung des Geländes durch den Grundstückskäufer.

Statt zwei sollen 15 Wohneinheiten entstehen

Dass Pflugfelder als Bauträger ein enormes Interesse an der Verwertung des bisher zu einem großen Teil brachliegenden Geländes hat, liegt auf der Hand: Es ist knapp 1400 Quadratmeter groß. Ist das alte, laut Pflugfelder nicht mehr sanierbare Gebäude, mit nur zwei Mietparteien weg, könnten hier 15 Wohneinheiten gebaut werden. Dennoch deutete Zivilrichter Jochen Hutzel schon mal an, dass, was einen „erhebliche Nachteil“ für den neuen Eigentümer angehe, „etwas wenig vorgebracht“ worden sei. Auch zeigte er sich verärgert, dass der Geschäftsführer Wünsch auch zwei Jahre nach dem Kauf noch nicht versichern konnte, dass sein Unternehmen überhaupt im Grundbuch eingetragen ist.

Mit dem Vergleich hätte sein Unternehmen leben können, stellt Julian Pflugfelder klar. Er rückt im Nachhinein allerdings von der Aussage seines Geschäftsführers Wünsch ab, wonach Ali Abderrahman Ali seine Miete seit 2016 nicht mehr bezahle. „Er hat sie teilweise etwas verspätet bezahlt.“ Auf die Kündigung von Juli 2016 habe es von dem Senior allerdings „keinerlei Reaktion“ gegeben. „Wir haben versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber ohne Erfolg.“ Vielleicht, weil Ali Abderahman Ali davon gar nichts mitbekommen hat.

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