Am Anfang scheint es der leichteste Fall, den der Stuttgarter Detektiv Georg Dengler je hatte. Er soll in Wolfgang Schorlaus neuem Krimi „Die schützende Hand“ noch einmal nachprüfen, wie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vom NSU zu Tode kamen. Doch Dengler entdeckt Widersprüche in den Akten.

Stuttgart - Verschwörung ist ein hässliches Wort. Nicht nur wegen der Sache, die es benennt, sondern auch der zerstörerischen Gewalt wegen, die es gegen den richten kann, der es verwendet. Wer die Möglichkeit einer Verschwörung durchdenkt, wird zum Verschwörungstheoretiker. Und dieser Begriff benennt jene Spinner, die im Internet eifernd, geifernd, durchgeknallt jede Erscheinung der Natur, der Zeitgeschichte und der Gesellschaft in abstruse Zusammenhänge stellen. Der Stuttgarter Autor Wolfgang Schorlau begibt sich mit der „Schützenden Hand“ ins Narrenreich der Verschwörungstheorie. Und er weiß ganz genau, was er da tut.

 

„Die schützende Hand“, Erstverkaufstag am 12. November, ist der achte Roman um den Privatermittler Georg Dengler. Wie immer in Schorlaus Krimis geht es um keine kleinen Fische privater Gesetzesübertretung, sondern um ein Thema höchster gesellschaftlicher Brisanz. Diesmal um den monströsen Komplex rund um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), dessen offizielle Aufarbeitung durch Ermittlungsbehörden und die Zweifel an deren Arbeit.

Verdacht auf Staatsverbrechen

Schorlau bezieht dazu im Nachwort seines Romans Position. „Dieses Buch“, schreibt der 1951 in Idar-Oberstein Geborene, „ist eine literarische Ermittlung in einem realen Kriminalfall. Und ich fürchte, es ist die Ermittlung eines Staatsverbrechens.“

Mit anderen Worten, „Die schützende Hand“ ist die fiktionale Einkleidung einer Verschwörungstheorie. Dengler aber sagt im Buch, was jeder, der nun zurückzuckt, bedenken sollte: „Wenn du ein Verschwörer wärst und jemand kommt dir auf die Schliche, dann brauchst du nur mit dem Finger auf denjenigen zu zeigen und ‚Verschwörungstheoretiker‘ zu rufen, und schon ist aller Verdacht von dir abgewaschen – das wäre doch eine feine Sache.“

Nicht nur des großen Knalls wegen beginnt Schorlau seinen Krimi mit dem Nagelbombenanschlag in Kölns Keupstraße im Juni 2004. Er kann so einiges etablieren, was den ganzen NSU-Fall durchzieht: zum Beispiel das Nichtbeachten von Zeugen, das Verdrängen wichtiger Anhaltspunkte, die seltsame Anwesenheit von Beamten und V-Männern zur Tatzeit in Tatortnähe, einen schikanösen Umgang mit Zeugen, den man als Einschüchterungsversuch deuten kann.

Lücken, Widersprüche und Selbstmorde

Danach lässt sich Schorlau klugerweise nicht darauf ein, alle der NSU zugeschriebenen Taten in den Roman zu pferchen. Der Detektiv bekommt konspirativ den Auftrag, den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu untersuchen. Das scheint zunächst ein einfacher Fall: genügt es da nicht, zusammenzufassen, was in Zeitungen zu lesen stand? Zwei Rechtsradikale, die sich nach einem Banküberfall in einem Wohnmobil in Eisenach verstecken, werden von der Polizei gestellt. Sie begehen Selbstmord, und in den Trümmern des von ihnen zuvor noch in Brand gesteckten Fahrzeugs entdeckt die Polizei Schusswaffen, die belegen, dass der NSU auch für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn verantwortlich war.

Gegen diese falsche Eindeutigkeit wendet sich Schorlau mit einer leicht lesbaren, Schritt um Schritt die Widersprüche und Lücken der offiziellen Geschehensvarianten aufdeckende Zusammenfassung der bisherigen Untersuchungen zum Ende des NSU. Er legt Dengler jene Zweifel in den Kopf, die in der Realität Journalisten, Politiker und besorgte Bürger hatten. An der Hand des Detektivs werden wir durch Akten und Protokolle geführt.

Verdrängtes endlich zur Kenntnis nehmen

Das könnte man in vielen Fällen erzählerische Bequemlichkeit nennen, aber hier ist es programmatische Ökonomie. Schorlau will, dass eine möglichst große Menge Menschen endlich zur Kenntnis nimmt, was längst offenbar ist, aber von vielen verdrängt wurde: dass Behörden von Anfang an gelogen, getrickst und vertuscht haben. Unter anderem, um zu verbergen, wie tief sie selbst via V-Männer und Strukturaufbauhilfe in die Terrorszene verstrickt sind.

Mit der „Schützenden Hand“ will Schorlau also eine barrierefreie fiktionale Tour durch einen Hindernisparcours der Realität bieten, ohne dessen Dichte und Tücke zu beschönigen, ein äußerst schwieriges Unterfangen. So gibt es denn auch einen kleinen Rückverweis auf andere Zeiten, in denen der aufklärerische Geist des Krimis siegesgewisser daherkam.

Akten gegen den Strich lesen

Wenn Dengler zunächst die Medienberichte zum Tod von Mundlos und Böhnhardt rekapituliert, erinnert das an den Anfang der modernen Kriminalliteratur, an die Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen Geschichten des Amerikaners Edgar Allan Poe um den Hobbydetektiv C. Auguste Dupin. Dupin löste Fälle aus der Ferne, indem er die Zeitungsberichte genau studierte, durch klare Analyse des Gelesenen die Irrtümer der Polizei aufdeckte und schließlich eine tragfähige Theorie zu Tathergang und Tätern lieferte.

Dengler schreitet von den Medienberichten zu den offiziellen Akten voran, die er gegen den Strich liest. Aber anders als Dupin kann er kein detailklares Bild des Gesamtgeschehens mehr malen. Die Theorie jedoch, mit der Schorlau die Lücken der Beweisketten füllt, die Spekulationen über deutsche und amerikanische Geheimdienste, die als Marionettenspieler der Rechtsradikalen agieren, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Am Ende fragt sich Dengler, ob er nicht lange ein völlig falsches Bild von den Verhältnissen im Land hatte.

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. 382 Seiten, 14,99 Euro.