Geht er? Oder geht er nicht? Wolfgang Schuster denkt über eine weitere Amtszeit als Oberbürgermeister in Stuttgart nach. Und räumt Fehler ein.

Digital Desk: Anja Treiber (atr)

Stuttgart - Sein Zerrbild ist im Haus der Geschichte zu besichtigen. Am Bauzaun, der bis vor einem Jahr am Nordausgang des Bahnhofs stand und jetzt museumsreif ist, hat ein Unbekannter eine hellgrüne Schaumstoffstange befestigt. Die schmale Stange bildet den Körper der Wolfgang-Schuster-Puppe. Sie trägt eine gestreifte Krawatte. Zwei mit schwarzen Punkten bemalte Tischtennisbälle sind die Augen, die durch eine von Hand zurechtgebogene Drahtbrille blicken. Seit Kurzem können die Besucher des Museums in der Ausstellung „Dagegen leben – der Bauzaun und Stuttgart 21“ sehen, wie der Streit über den Bahnhof eine Stadt erschüttert hat – auch ihren Oberbürgermeister.

 

In diesen Tagen entscheidet sich Wolfgang Schuster, ob er noch einmal im Herbst 2012 zur Wahl antritt. Am 9.Januar will er seinen Entschluss bekanntgeben. Der 62-Jährige weiß, dass seine Entscheidung zwiespältige Reaktionen hervorrufen wird. Er hat in Stuttgart nicht nur beim Puppenbastler einen schweren Stand: Am Bauzaun hängen rund zweieinhalbtausend Protestdokumente – 200 davon richten sich gegen den Oberbürgermeister, der seit 15 Jahren die Stadt regiert. Schuster ist am Bauzaun das Feindbild Nummer zwei des Widerstands gegen Stuttgart 21, gleich nach Stefan Mappus. Wie konnte es so weit kommen? Wer ist der Mann, von dem sich viele aus der Distanz ein Bild gemacht haben, weil er nur wenige an sich heranlässt?

Die Kindheitstage waren von Sparsamkeit und einer klaren Rollenverteilung geprägt

Politik sog Wolfgang Schuster fast mit der Muttermilch auf: Sein Vater führte die CDU-Fraktion im Ulmer Gemeinderat. Er arbeitete als Rechtsanwalt, die Mutter kümmerte sich in den späten Nachkriegs- und den frühen Wirtschaftswunderjahren um die vier Söhne. Wolfgang, am 5.September 1949 geboren, war der Zweitälteste.

„Die Härte des Zweiten Weltkriegs und die hierarchische Struktur beim Militär haben meinen Vater geprägt“, erinnert sich Schuster. Der Kirchgang war Pflicht, „ich wurde zur Sparsamkeit erzogen“ – die Rollen zwischen Mutter und Vater waren klar verteilt. Im Elternhaus war gelegentlich ein junger Referendar aus einer anderen Ulmer Anwaltskanzlei zu Besuch, der Wolfgang Schusters weiteres Leben entscheidend beeinflussen sollte: Manfred Rommel. Die Wege der beiden werden sich später wieder kreuzen.

Nach dem Abitur am Ulmer Humboldt-Gymnasium leistete er seine Wehrpflicht bei den Gebirgsjägern in Mittenwald. Der 18-Jährige dachte an die Berge und ans Skifahren, doch dann kam die Weltpolitik dazwischen: Im August 1968 marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein und beendeten den Prager Frühling. Es wurde Nato-Alarm ausgerufen – oberste Stufe. „Unsere Rucksäcke standen fertig gepackt“, erzählt Schuster, der damals dachte: „Schade, dass du als Kanonenfutter verheizt wirst.“

Wolfgang Schuster - ein Student auf der Überholspur

Ende der 60er Jahre gingen die Studenten gegen den Muff von tausend Jahren und den Vietnamkrieg auf die Straße. Viele brachen zu neuen Ufern auf, und auch Wolfgang Schuster wurde 1969 endgültig flügge. Er ging nach Tübingen, trug die Haare aber nicht lang, sondern Seitenscheitel und nahm ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften auf. Er zog in das Haus einer Verbindung, unter den dort lebenden Kommilitonen gab es zwei Strömungen: „Die Gruppe Geist und die Gruppe Bier.“

Wolfgang Schuster war sofort klar, wohin er gehörte. Er begegnete den gesellschaftlichen Umwälzungen mit einer Neugier, die ihn sein ganzes Leben lang antreiben sollte. „Ich habe politische Themen beackert, wir haben zahllose Papiere geschrieben“, erinnert sich Schuster rund 40Jahre später in seinem Amtszimmer im Stuttgarter Rathaus. Viele, die ihn in der Landeshauptstadt begleitet haben, beschreiben Schusters Politikstil heute auf ganz ähnliche Weise: „Er denkt konzeptionell, er ordnet die Welt und seine Programme in 10-Punkte-Pläne“, erzählt ein kritischer Weggefährte. „Was auf dem Papier abgearbeitet wurde, ist für ihn erledigt.“

„Als Jurist“, erzählt er selbst, „habe ich von Anfang an analytisches Denken trainiert.“ Während Wolfgang Schuster in Tübingen studierte, kämpfte in Frankfurt der junge Joschka Fischer in der außerparlamentarischen Opposition. Er las Habermas und Hegel. Der Rebell war da ganz Joschka und noch nicht Herr Dr. h.c. Fischer. Wie ihm ging es vielen. Wolfgang Schuster befand sich da längst auf der Überholspur. Das erste juristische Staatsexamen schloss er als drittbester von 286 Kandidaten ab, das zweite Staatsexamen als viertbester von 445 Absolventen. Für die Promotion im Zivilrecht benötigte er ein halbes Jahr. Wolfgang Schuster kann lange über Disziplin reden und darüber, dass er seine damalige Freundin und heutige Frau Stefanie bewunderte, die noch härter arbeitete als er selbst. „Sie lernte mit unglaublicher Konsequenz.“

Er hat Stuttgart für die Zukunft fit gemacht, glaubt er

„Zeitökonomie“ ist ein Wort, das er gerne verwendet. Es klingt kalt. Wolfgang Schuster legte in jungen Jahren ein Tempo vor, das viel über seinen Charakter verrät. Er ist von blitzgescheiter Ungeduld, ein Überflieger, der es gewohnt ist, sich gegen andere durchzusetzen. „Seine Arbeitseinstellung grenzt an Selbstkasteiung“, sagt ein führender Kopf im Rathaus. „Nie lässt er etwas schleifen.“

Wolfgang Schuster hat seinen eigenen Blick auf die Stadt. Wenn frühmorgens die Haustür hinter ihm zufällt und er auf der Gänsheide am Waldrand ein steiles Sträßchen hinaufjoggt, liegt der Talkessel unter ihm. Er hat Stuttgart fit gemacht für die Zukunft, glaubt er. „Als Oberbürgermeister hat er in der Stadt vieles angepackt, was Rommel liegen gelassen hat“, erzählt einer, der ihn über Jahre hinweg begleitet hat.

Manfred Rommel hat sich nicht in Bauwerken verwirklicht, sondern in Atmosphäre. Wolfgang Schuster setzte sich für das Kunstmuseum ein und für eine neue Stadtbibliothek, er scheiterte mit der Olympiabewerbung und dem Trump-Tower. Sein Stuttgart? Die sauberste Stadt, die sicherste, die kinderfreundlichste, die mit dem modernsten Bahnhof. Schuster drückte immer wieder aufs Tempo, die Stadt kam kaum zur Ruhe, und auch ihm selbst blieb kaum Zeit, um innezuhalten. Das war schon immer so. Nach seiner Promotion absolvierte Schuster Mitte der 1970er Jahre in Paris die Eliteschule Ecole Nationale d’Administration (ENA). Die Kaderschmiede besuchte unter anderem Jacques Chirac. So hoch angesehen die Universität ist, so umstritten ist sie. Sie bringe volksferne Führungskräfte hervor, sagen Kritiker. In Wolfgang Schusters Abschlusszeugnis steht: „très bon“.

Wahlkampfzeit war für Schuster immer auch Wahlkrampfzeit

Nach einem kurzen Zwischenstopp im Staatsministerium wechselte Wolfgang Schuster von der Villa Reitzenstein ins Stuttgarter Rathaus. Er wurde 1980 Diener des ersten Herrn, der einst bei seinem Vater ein- und ausgegangen war. Manfred Rommel förderte seinen Referenten. 1985 wurde Schuster schließlich in Schwäbisch Gmünd im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister gewählt.

So leicht sollte es für ihn nie mehr werden. Wahlkampfzeit war für ihn immer Wahlkrampfzeit – auch als es für ihn 1996 um die Nachfolge von Rommel ging. Auf der politischen Bühne standen sich zwei Hauptdarsteller gegenüber, deren unterschiedliche Temperamente Unterhaltungswert hatten: Der Grüne Rezzo Schlauch trat als Anti-Schuster auf: Er gab das schwäbische Rumpelstilzchen, wogegen Schuster aus der sicheren Deckung des CDU-Favoriten Konzepte vortrug. „Das Publikum hatte den Eindruck, dass ihm ein Besenstil im Kreuz ist“, sagt Schlauch rückblickend, der im zweiten Wahlgang gegen Schuster mehr als 39 Prozent der Stimmen holte – eine Sensation. „Schuster umgibt eine kommunikative Mauer“, sagt Schlauch. „Viele Leute hatten nicht das Gefühl, dass sie ihn wirklich interessieren.“

Doch zum Gesamtbild gehört auch ein anderer Pinselstrich. Sieben Jahre nach dem Duell um den Chefsessel im Rathaus trug sich Rezzo Schlauch 2003 mit dem Gedanken, erneut anzutreten. Schlauch sondierte in Stuttgart den Markt, er wollte Schuster bei den sozialen Themen stellen. Er sprach mit Sozialarbeitern, er besuchte Schulen. „Da habe ich von fast allen viel Positives über die Arbeit von Schuster gehört. Das hat mich überrascht, es gab ja damals schon dieses Negativbild von ihm, das nach außen wirkte.“

Noch will sich der OB nicht in die Karten blicken lassen

So ist das Duell den Menschen in Erinnerung geblieben: Hier „der Rezzo“, dort „der Schuster“. Diese Distanz zwischen vielen Bürgern und ihrem OB ist nie verschwunden. Je stärker Wolfgang Schuster angegriffen wurde, desto unsichtbarer machte er sich als Mensch. Die Distanz sollte Folgen haben in den späten Schuster-Jahren, in denen Stuttgart 21 alles überlagerte. Im Spätherbst 2007 braute sich rund um das Rathaus ein politisches Unwetter zusammen: Wochenlang hatten die Gegner des Tiefbahnhofs Unterschriften gesammelt – das Volk sollte entscheiden. Die Gegner wollten ihrem Oberbürgermeister die Unterschriften persönlich im Rathaus überreichen. Schuster zögerte, er besprach sich mit Vertrauten. Einer von ihnen erinnert sich: „Wir waren uns unsicher, wer die Unterschriften entgegennehmen soll. Schließlich musste der Ordnungsbürgermeister Schairer ran.“ Dessen gequälter Gesichtsausdruck findet sich auf vielen Fotos, die an jenem Tag entstanden sind. Am stärksten hat sich beim Protest ein anderes Bild ins Gedächtnis eingebrannt, das nie existiert und doch eine ungeheure Wirkung entfaltet hat: jenes, auf dem Wolfgang Schuster die Aktenordner entgegennimmt. Es war ein Schlüsselmoment des Konflikts.

„Mir war klar, dass das Bürgerbegehren rechtlich nicht zulässig war“, sagt Wolfgang Schuster rund vier Jahre später. „Aber heute würde ich die Unterschriften entgegennehmen und mit den Leuten diskutieren. Vielleicht war ich damals zu sehr Jurist und zu wenig sensibel für die Politik.“ Schuster hat lange gebraucht, um sich diesen Fehler einzugestehen. In diesen Tagen überlegt er, ob er im nächsten Spätherbst noch einmal antreten will. Seine Frau Stefanie und seine drei erwachsenen Kinder werden dabei mitreden. Noch will sich Wolfgang Schuster nicht in die Karten blicken lassen. Aber er hat sich zwischen den Jahren selbst eine „Hausaufgabe“ gestellt und aus dem Büro mitgenommen: „Wie können wir wieder gemeinsam nach vorn schauen und die Spannungen in der Stadt überwinden?“ Die Frage stellt sich tatsächlich. Offen bleibt nur, wer sie beantworten wird.