Er kann viel mehr, als immer nur den Frankfurter „Tatort“-Kommissar Paul Brix zu mimen. In seinem Solo-Programm „Ich bins deine Mutter“ spielt er auf einem großen Sockel ganz allein viele verschiedene Rollen und erinnert damit an das Theatergenie Einar Schleef – grandios!

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Auf dem goldenen Sockel, dem einzigen Requisit, steht er schon, als die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Stumm, den rechten Arm erhoben. Kaum wird es im Theaterraum dunkel, wandelt sich das Denkmal mit nur einer Bewegung zur alten Mutter, die in einer Telefonzelle ihren Sohn anruft: „Junge, ich bin’s, deine Mutter!“ Die Münzen rattern, die Verbindung ist schlecht: „Wie es dir geht! Ach Junge, du nuschelst!“ Und: „Herr Richter, dein Zeichenlehrer, ist tot. Selbstmord. Noch zwei Mark.“

 

Brauner langer Kostümrock, Gürtel, Alt-Fräulein-Stimme: Zum Auftakt seines Gastspiels am Samstag im Stuttgarter Kammertheater schlüpft der Schauspieler Wolfram Koch in Gertrud Schleef, die Mutter Einar Schleefs, des großen, 2001 verstorbenen Theaterregisseurs, Autors, Bühnenbildners. Vier Stunden ist sie von Sangershausen in Sachsen-Anhalt nach Ostberlin gefahren, dort steht die einzige Telefonzelle, von der aus sie ihren Sohn in Westberlin anrufen kann. Die Kommunikation ist banal, zerhackt, gestört – und illustriert so unterschwellig die komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung. Dann wechselt Koch nahtlos in eine Männerfigur hinüber. So erklärt sich die Anzughose unterm Rock (Ausstattung: Dorien Thomsen).

Wolfram Kochs beeindruckendes Solo „Ich bins deine Mutter“ verwebt vier autobiografisch gefärbte Episoden aus Schleefs Erzählungen „Die Bande“ und ergänzt diese um Auszüge aus Briefen von dessen Mutter. Koch hat den gut siebzigminütigen Monolog zusammen mit dem Regisseur Jakob Fedler eingerichtet; die beiden kennen sich von Arbeiten mit einer weiteren Regie-Größe, Dimiter Gotscheff. Beide eint die Faszination für Schleefs Texte, seine Sprache und seine „Sicht auf das Leben“, wie Fedler nach der Vorstellung in der Diskussionsrunde sagen wird. So ist die Idee zu dem Abend entstanden.

Er tanzt, er singt, er liegt quer auf dem Sockel, er schafft ein Denkmal

Dem Fernsehpublikum dürfte Koch vor allem als Frankfurter „Tatort“-Kommissar Paul Brix bekannt sein. In seinem Gastspiel in Stuttgart tritt nun unmissverständlich zutage, dass er in der TV-Rolle nur einen Bruchteil seines darstellerischen Talents ausspielen kann. Nur mit seiner Stimme, seiner Körpersprache, einer facettenreichen Mimik formt Koch die dem Schleefschen literarischen Kosmos entstammenden Gestalten, malt mit nichts als dem Sockel als Requisit ganze szenische Bilder.

Aus einer Geste heraus wechselt er von einer Rolle zur nächsten, spinnt den Faden ihrer tragikomischen Erzählungen fort: Da ist der Ehemann, der vom Betrug seiner Frau ans Bahngleis getrieben wird und dort auf den versehentlichen Schubser eines Passanten wartet. Da ist der Hausbauer, der erst den Stolz auf die eigenen vier Wände mehrmals herauströtet, bevor er seinen ganzen Familien- und Ehefrust in zweimalige Brandstiftung und anschließenden Selbstmord münden lässt. Und da ist Elly, die bei ihrem Ausflug zum Kyffhäuserdenkmal mit ihrer Freundin Trude von hochnotpeinlichen und übelriechenden Verdauungsproblemen heimgesucht wird. Sogar ein Trio stemmt Koch mühelos, wenn er Schleef seinen bereits erwähntem Zeichenlehrer einen Besuch abstatten und dessen Streitereien mit der Ehefrau beiwohnen lässt.

Koch wischt mit seinem grandiosen Spiel den Staub und Schutt weg, der die Risse in diesen Figuren überlagert, zeigt ihr Scheitern, ihre Menschlichkeit, ihre Nöte und Einsamkeit – und ihre Komik. Er tanzt, er singt, er legt sich quer auf den Sockel, spielt voller Inbrunst und setzt so nicht nur Einar Schleef, sondern auch seiner Kunst ein Denkmal.