Timo Brunke aus Stuttgart ist Poet, Wort- und Sprechkünstler. Sprache und Stimme sind für ihn zwei Musikinstrumente. Beides bringt er mit Dichterkollegen bei den Literaturtagen in Weinstadt ins Spiel.

Weinstadt - Timo Brunke ist ein moderner Dichter und Wortkünstler, hat in puncto Klassikern wie Friedrich Schiller, Justinus Kerner oder Ludwig Uhland aber keine Berührungsängste. Im Gegenteil. Schillers „Ode an die Freude“ hat er in eine Hymne gegen das Bahnprojekt S 21 umgedichtet. Der Titel: „Freunde schöner Kopfbahnhöfe.“ Bei den Baden-Württembergischen Literaturtagen, die am 23. September in Weinstadt beginnen, treten Timo Brunke und drei seiner Dichterkollegen bei „Lyrik & Chor“ mit Sängerinnen und Sängern und neuen Texten zu traditionellen Volksliedern auf.

 
Herr Brunke, Hand aufs Herz – kann man Menschen mit Veranstaltungen wie den Baden-Württembergischen Literaturtagen wieder für Bücher begeistern? Oder kommen zu solch einem Ereignis ohnehin nur die überzeugten Fans hin?
Literaturtage sprechen natürlich in erster Linie Literaturbegeisterte an, und das hat ja seine Richtigkeit, denn sie sind die Hauptzielgruppe. Ich denke aber, dass die Literaturtage auf jeden Fall auch andere Besucher anlocken. Das Potenzial der Literaturtage liegt mit darin, dass sie über Land ziehen. Das unterscheidet sie von Einrichtungen wie etwa dem Literaturhaus in Stuttgart.
Die Literatur kommt zum Publikum?
Gewissermaßen. Als Veranstalter vor Ort muss man die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen. In Weinstadt ist das Motto „Wort. Wein. Gesang“, und das finde ich hier auf jeden Fall stimmig. Dass jemand, der Wein mag, auch für Geschichten offen ist, ist gut überlegt. Ich finde es sehr wohltuend, dass die Literaturtage in Weinstadt auf das Wort bauen und auf echte Begegnungen. Das Programm zeigt ein Vertrauen auf das Ohr und ist in meinen Augen angenehm unaufgeregt.
Welches Buch würde es nie bis in Ihr Buchregal schaffen?
Ich laufe oft Gefahr, dass es Bücher schon allein deswegen nicht in mein Regal schaffen, weil mir das Cover nicht gefällt. Ansonsten würde ich mir nie Autoren ins Regal stellen, die Hetzparolen verbreiten.
In Weinstadt gibt es eine spezielle Verbindung von Lyrik und Gesang. Der Grund ist der 1789 im Stadtteil Schnait geborene Friedrich Silcher, der ein Schlagerkomponist des 19. Jahrhunderts war.
Silcher hat Gassenhauer komponiert. Die Grenzen zwischen ernster Musik und Unterhaltungsmusik waren im 19. Jahrhundert noch ganz anders.
Mögen Sie Schlager?
Ja! Ich habe Volkslieder und gute Schlager gern. Ich mag es, wenn ein Lied mit Niveau weite Kreise zieht, weil dann auch der glückliche Fall eintritt, dass Poesie sich verbreitet und im Herzen ankommt.
Zwei gelungene Beispiele?
Silchers „Ännchen von Tharau“ ist zwar rührselig, aber nicht kitschig, es geht ans Herz und hat Charme. Was Schlager betrifft, so fällt mir als positives Beispiel „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens ein.
Und welches negative Beispiel kommt Ihnen in den Sinn?
Den Schlager „Atemlos“ lehne ich zum Beispiel ab, weil er mir zu industriell gefertigt ist.
Silcher hat viele Gedichte vertont, etwa von Justinus Kerner oder Ludwig Uhland. Den Aspekt greifen Sie und andere Dichterkollegen auf, indem sie bei vier Konzerten in Weinstadt unter anderem Silchermelodien mit neuen Texten vorstellen.
Das stimmt. Es handelt sich um ein eher heiteres Konzert mit Kindern der Klassen 5, 6 und 7 des Remstal-Gymnasiums. Zu hören gibt es einen „Silcher-Kompott“ aus alten Melodien mit neuen Texten, aus Gedichten und neuen Kompositionen.
Was erwartet die Zuhörer denn da beispielsweise?
Das wehmütige Abschiedslied „Nun leb wohl du kleine Gasse“ wird zu einem Lied über das Aufstehen am Morgen: „Muss ich wirklich, wirklich wieder Aufstehen?“
War es für Sie als modernen Dichter schwierig, ein altes Silcher-Lied mit neuen Worten zu bestücken?
Eigentlich nicht. Silchers Sätze haben eine einfache, aber schöne Sprache und sind handwerklich gut gemacht. Er hatte das Talent, einfach zu sein, was in der Kunst oft das Schwere ist.
Herr Brunke, ein Tipp für Pädagogen: Wie kann ein Lehrer seinen Schülern Poesie gründlich und nachhaltig vermiesen?
Oh, das geht leicht. Ein junger Deutschlehrer sollte einfach dem Beispiel der meisten seiner Kollegen folgen und Poesie verwissenschaftlichen. Die Hauptbeschäftigung mit Poesie sollte unbedingt die Gedichtinterpretation sein. Und der Lehrer darf das Gedicht auf keinen Fall vortragen und zum Klingen bringen.
Sie halten eher wenig von Gedichtinterpretationen?
Kein Dichter will interpretiert werden. Er will gesprochen oder gesungen werden. Natürlich kann bei einer Gedichtinterpretation auch Interessantes zu Tage kommen, aber eigentlich ist das doch eine technische Fingerübung, und Poesie ist ein Klangkunstwerk, das dabei auseinandergenommen und zerlegt wird. Die Dichtkunst ist etwas fürs Ohr, sie ist Ohrenkunst und Sprechkunst. Das wird radikal vernachlässigt, es mangelt an Verständnis und Praxis. Früher war das anders – da trug man sich Gedichte bei Gesellschaften gegenseitig laut vor. Die Dimensionen von Dichtung werden erst beim Sprechen deutlich.
Und welchen Fehler sollte man als Lyriker auf keinen Fall begehen?
(lacht). Der Lyriker an sich macht immer einen Fehler: Er hat das falsche Genre gewählt und führt mit seiner Liebe, Worte zu wägen, ein Randdasein. Aber im Ernst: Ein Lyriker darf nie das Vergnügen an der Sprache und den Glauben an das Wort verlieren.
Wie könnte man der Poesie wieder zu mehr Beachtung verhelfen?
Ein Gedicht ist ja eigentlich ein Popsong. Das muss man wiederentdecken. Und man muss das Gedichte-Sprechen wieder gesellschaftsfähig machen. Poetry-Slams sind ein erster Schritt dazu (Anm. d. Red.: bei diesen „Dichterschlachten“ werden selbst geschriebene Texte vor Publikum vorgetragen). Auch die Kulturtechnik des Lauschens muss gefördert werden.