Zwischen Kommunismus, Kontaktbörsen und RAF: Im Württembergischen Kunstverein Stuttgart beweisen die Künstlermitglieder in der Ausstellung „Präsenz, Kritik, Utopie“, wie lebendig die Kunstszene in der Region ist.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Die Dinge könnten so einfach sein. Peter Haury hat in jedem Fall beherzt gehandelt und in Stuttgart an viel befahrenen Straßen Schilder aufgestellt, die nichts verbieten, sondern wie in einer Spielstraße anzeigen, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind, selbst wenn sie mit dem Dreirad unterwegs sein sollten. Der Stuttgarter Künstler hat in Feuerbach, Sonnenberg und Degerloch interveniert, und seine daraus entstandene Fotoserie weckt süße Fantasien, wie es wäre, wenn auf dem Degerlocher Albplatz geradelt, gerollert, gebummelt werden könnte – und vielleicht sogar Schafe das Grün vom Randstreifen futterten.

 

Ein Kaleidoskop der Herkünfte

Kunst mag die Welt nicht verändern, sie kann den Geist aber öffnen für ein neues Miteinander. Die Künstlermitglieder des Württembergischen Kunstvereins (WKV) zeigen seit diesem Wochenende im Stuttgarter Kunstgebäude, wie die Weichen gestellt werden könnten für eine bessere Zukunft. „Präsenz, Kritik, Utopie“ nennt sich die Ausstellung im WKV-üblichen Sprech, von dem man sich aber nicht abschrecken lassen sollte. Die künstlerischen Beiträge sind keineswegs so verstiegen, wie die Erläuterungen zur Schau vermuten lassen, die eine „Reformulierung des emanzipatorischen Projekts einer modernen Gesellschaft im Kommen“ versprechen.

Renate Gaisser hat es schlicht auf den Punkt gebracht und „Toleranz“ mit farbigen Holzklötzchen an die Wand geschrieben. Oder Patricia Otte: Für ihre Arbeit „One Race“ hat sie Kinder unterschiedlicher Herkunft fotografiert und über die Gesichter Zeichnungen gelegt, womit deutlich wird, dass letztlich alle Menschen die gleichen Sehnsüchte und Bedürfnisse haben. Mitgliederausstellungen sind immer eine Herausforderung, jeder darf eine Arbeit beisteuern – und die Kuratoren können schauen, wie sie Struktur in das Potpourri bekommen. Der Rundgang im Kunstgebäude wirkt angenehm aufgeräumt und anregend. Die Beiträge der 200 Künstlerinnen und Künstler wurden thematisch gruppiert. Da geht es mal um Zukunftsvisionen oder um Deutschsein – wie in dem Video von Min Bark, die Menschen in Stuttgart gebeten hat, vor der Kamera „Ich bin deutsch“ zu sagen. Ein Kaleidoskop der Herkünfte.

Die Freiheit ist nur eine Attrappe

Wenn es nach Ingolf Jännsch geht, scheinen die Debatten um Freiheit nicht mehr als hohle Phrasen zu sein. „Freiheit nur Attrappe“ nennt er seine Arbeit, eine Gitterbox, in der Bücher eingesperrt sind, die den Begriff „Freiheit“ im Titel führen, ob es nun um den Aufstand der arabischen Jugend geht, um Anthroposophie oder Die Linke. Auch Julia Hillesheim scheint vom politischen Engagement der Generation Smartphone wenig zu erwarten. Sie erzählt in einer Bildergeschichte vom Ringen um Veränderung. Ein junger Mann sinniert über das Elend der Welt, entwickelt Ideen, will etwas ändern – doch die Frau an seiner Seite glotzt immer nur ungerührt aufs Handy, selbst dann noch, als er die Waffe wütend gegen sie richtet.

Wer behauptet, dass Stuttgart kein Kunststandort sei, den belehrt diese Schau eines Besseren. Die Positionen sind vielfältig, klassische Malerei ist nur ein Medium unter vielen, es wird auch installativ, mit der Kamera oder konzeptuell gearbeitet, mit Digitaldruck oder Lego-Figuren. Hier ein auf Sand gelegtes Mosaik mit Brezelmotiven, dort ein Pop-Art-Klassiker als Webteppich. Manches ist komplex, anderes einfach. Müller & Sohn haben sich auf die Suche begeben nach Herzog Christoph und für ihre Videoarbeit mit roten Streifen Muster um das Denkmal am Schlossplatz gelegt. Nicht unmittelbar politisch, aber augenzwinkernd gesellschaftskritisch ist der Beitrag von Ulrika Jäger und Brigitte Behrens, die Zitate rund um Schuhe gesammelt haben – „zu jedem Outfit gehört ein Paar schöne schicke Schuhe“.

Materialcollage als Stinkefinger

Danielle Zimmermann benimmt sich, wie man es von Künstlern erwartet: provozierend. Sie zeigt den Besuchern auf ihrer Materialcollage „Fuck you“ einen Stinkefinger. Minsun Lee wartet da mit mehr Selbstironie auf und erklärt in einer Videoarbeit, was es heißt, Künstlerin zu sein – wobei sie den hehren Künstlermythos konterkariert durch profane Tätigkeiten. Die geheimnisumwitterte Ideenfindung entpuppt sich bei ihr als ödes Rumsitzen am Schreibtisch mit sinnlosen Spielen auf dem Smartphone.

Ein interessanter Querschnitt, bei dem es um Flüchtlinge und Kontaktbörsen geht, Kommunismus oder die JVA Stammheim. Ein Beitrag bezieht sich konkret auf die Künstlerinnen und Künstler im WKV. Sie erhalten für ihren Einsatz kein Honorar, im Gegenteil, als Mitglieder des Vereins finanzieren sie dessen Engagement mit. Hanna Smitmans hat dennoch um eine Entlohnung gebeten, sie müsse schließlich ihre Miete bezahlen. Aus der ausgestellten Korrespondenz mit dem WKV erfährt man, warum die Künstler auch diesmal leer ausgehen. Trotzdem hat Thorsten Schuberth nicht recht. Er hat auf ein großformatiges Bild eines Straßenkampfs „Die Kunst ist tot“ gesprayt – die Mitgliederausstellung aber beweist das Gegenteil: Die Kunstszene in der Region ist lebendig und vielseitig wie schon lange nicht mehr.

Kunstverein im Blick

Der Württembergische Kunstverein wurde 1827 gegründet. Er hat derzeit rund 3000 Mitglied. Die Hälfte davon sind Künstlerinnen und Künstler. Seit 2005 legt der künstlerische Beirat für die Ausstellung der Künstlermitglieder ein Thema fest, zu dem Arbeiten eingereicht werden können.

Begleitend zur Ausstellung finden unter anderem Lecture-Performance statt mit Claude Horstmann (27. August, 16.15 Uhr) und Stefanie Rau (6. September, 18 Uhr). Am 17. September, 17 Uhr, hält Reinhold Adt einen Bildervortrag zu 1967, und am 22. September (16.30 Uhr) referiert Peter Schmidt über „Identität – Utopie – Kunst“. Bis 24. September, Dienstag bis Sonntag 11 bis 18, Mittwoch 11 bis 20 Uhr