Gitte Hellwig macht feine filmische Collagen. Ihr Beitrag „Ob sich die Sehnsucht vererbt“ läuft beim Wettbewerb „Young Animation“, dem Talentschuppen des Festivals.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Young Animation – von den fünf Wettbewerben des Trickfilmfestes ist dies sozusagen der internationale Talentschuppen: Filmstudenten und junge Hochschulabsolventen aus aller Welt präsentieren ihre jüngsten Werke, alle zwischen drei und fünfzehn Minuten lang. Keineswegs jeder, der einfach nur den Finger hebt, kommt hier zum Zuge. Aus einigen hundert Bewerbungen hat die Stuttgarter Vorjury rund sechzig Kandidaten ausgewählt und zu vier Programmen zusammengestellt. Und wer sich diesen als Zuschauer aussetzt, dem kann schon mal schnell schwindlig werden.

 

Es ist wie eigentlich jedes Jahr ein wilder Genre- und Stilmix, der hier beinahe im Tanztakt eines House-Clubs von der Leinwand strahlt – böse Cartoons im Disney-Stil aus Amerika, hehre hölzern-verdunkelte Filmkunst aus Japan, spröde Buntstift-Kritzelfiguren aus Frankreich, quietschbunter Mädchenzimmer-Märchen-Hardcore aus China. Das ist einerseits faszinierend und andererseits rauscht natürlich auch vieles schnell vorüber. Aber dann kommt doch irgendwann der eine Beitrag, der sich sofort im Kopf des Zuschauers festsetzt – wie zum Beispiel gleich am Auftaktabend „Ob sich die Sehnsucht vererbt“ der jungen Berlinerin Gitte Hellwig.

Das liegt zum einen an der Geschichte, die hier die 29-jährige Absolventin der Konrad-Wolf-Filmuniversität in Babelsberg erzählt – die Geschichte ihrer eigenen Familie, die sowohl geprägt als auch zerrissen ist von einer großen Sehnsucht zum Meer. Der Großvater ist als Funker in der DDR-Fischerei zur See gefahren und hat seinem Sohn bei den seltenen Besuchen daheim diese Sehnsucht eingepflanzt. Doch von einem Tag zum anderen verlässt er die Familie und löst so eine Kettenreaktion tragischer Ereignisse aus. Eigentlich ist das alles ein ziemlich großer und schwerer Stoff – und man ahnt, wie dies alles als „Story“ in den Fernsehfilmredaktionen von ARD und ZDF schön lange durchgewalkt worden wäre, damit am Ende auch bestimmt ein großer TV-Abend daraus wird.

Vielschichtige, ruhige Kunst

Gitte Hellwig aber kann die ganze große Geschichte in zwölf Minuten erzählen und lässt dabei keine Frage offen, zumindest keine beantwortbare. Und sie tut es mit einer vielschichtigen, ruhigen Kunst, die sofort gefangen nimmt, ohne sich als Kunst in den Vordergrund zu drängen und die Geschichte zu überlagern. Reale Filmbilder, wie die Regisseurin selbst am Meer nach Muscheln oder kleinen Fischen sucht, gehen über in alte Schwarzweiß-Familienbilder aus dem Fotoalbum – und plötzlich fängt es an, sich auf den Bildern zu bewegen, ganz fein und unaufdringlich; das Segelboot schwimmt wirklich auf dem Meer, die kleinen Möwen fliegen plötzlich in den Himmel davon, der Sonnenball verschwindet ins Wasser. Da entfaltet sich eine Poesie, die aber zu keinem Zeitpunkt verschönt oder verkleistert, das manches von dem, was man so erfährt, ganz schön traurig ist.

Puristisch ist diese Ästhetik jedenfalls ganz sicher nicht. Warum hat sich Hellwig für diesen Stile-Mix entschieden? „Es ist ja nicht leicht, sich einer solchen Familiengeschichte zu nähern, und noch dazu der eigenen“, erklärt die junge, angenehm muntere Künstlerin. „Letztlich ist das, was wir über die Vergangenheit denken, immer Konstruktion, selbst, wenn wir persönlich an den Geschehnissen beteiligt waren. Das wollte ich gern durch die verschiedenen Ebenen ausdrücken: Realfilm, Fotografie, Animation.“ Das animierte Bild ist hier also kein Selbstzweck, sondern schlüssiger Ausdruck einer besonderen Annäherung an Wirklichkeit – eine Annäherung, die weiß, dass sie selbst beim besten Willen diese Wirklichkeit nie ganz erreichen und wiedergeben kann.

Sechs Jahre hat Hellwig studiert, hat angefangen im Dokumentarfilm, bevor sie zum Trickfilm wechselte. „Ich hatte Collagen schon in meiner Kindheit sehr gern. Irgendwann habe ich angefangen, Szenerien aus Pappmaché herzustellen.“ Ob die Lust an diesem ganz speziellen Material etwas mit ihrer Herkunft zu tun hat? Aufgewachsen ist Hellwig in Ludwigslust im Südwesten Mecklenburgs. Den dortigen Herzog drängte es Ende des 18. Jahrhunderts zum großen herrschaftlichen Schloss, natürlich als repräsentative barocke Anlage. Weil die Mittel dafür in der Provinz aber bei weitem nicht reichten, baute man die Gebäude nicht aus Stein, sondern aus (allerdings sehr stabiler) Pappmaché (und es steht noch heute und lohnt den Ausflug). Gitte Hellwig jedenfalls lacht über den lokalen Bezug: „Bewusst wäre mir das zwar nicht. Aber wer weiß, wie geheimnisvoll und unterbewusst die Dinge miteinander verknüpft sind.“ Just davon erzählt ja auch ihr Film beim Festival.

Stuttgart ist beliebt

Nach ihrem Studienabschluss in Babelsberg lebt sie nun in der Hauptstadt von diesem und jenem Job in Film, Funk und Fernsehen, das ganz typische Jungkünstlerleben halt – und reist von Stuttgart gleich weiter nach Schwerin, wo ihr feines Werk ebenfalls auf einem Festival zu sehen ist. Und wie war die Aufführung beim hiesigen Trickfilmfest im Gloria-Kino? „Ich habe mich sehr wohl gefühlt, vor allem beim Interview. Bei solchen Gelegenheiten trifft man im Interview nach der Vorführung schon auf sehr unterschiedliche Moderatoren, aber hier in Stuttgart wird eben auch da auf Qualität geachtet.“ Ist das Stuttgarter Festival für die Szene denn wirklich so wichtig, wie es immer von sich selbst behauptet? „Ja sicher, es gibt kein so großes und konzentriertes Animationsfestival sonst. Und gestern Abend habe ich noch mit einem jungen Kollegen besprochen, dass es im Grunde schon eine Auszeichnung ist, hier überhaupt vertreten zu sein.“

Spricht’s – und schwirrt ab in Richtung Hauptbahnhof. Mal schnell checken, wie der Not-Fahrplan der Restbahn für Donnerstag aussieht. Schließlich muss es weitergehen, diesmal in den Norden. Und, das tippen wir jetzt mal, mit sehr guten Aussichten auf weitere, spannende Projekte.