Vier YouTuber haben Kanzlerkandidat Martin Schulz interviewt. Übertragen wurden die Gespräche per Livestream. Lesen Sie hier, wie eine Erstwählerin das Interview wahrgenommen hat.

Berlin - Die Volksparteien sind auf der Suche nach der verlorenen Jugend. Und weil viele der jungen Menschen nun mal nicht mehr zur Tatortzeit vor dem Fernseher ein TV-Duell verfolgen wollen, sondern stattdessen im Internet die Videos ihrer YouTube-Ikonen streamen, gehen auch die Spitzenpolitiker von Union und SPD neue Wege. Vor knapp drei Wochen war Bundeskanzlerin Angela Merkel dran, dieses Mal war es ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz, der sich den Fragen von vier prominenten YouTubern im Studio „YouTube-Space“ mitten in Berlin stellen wollte. Übertragen wurden die vier Interviews, die insgesamt eine Stunde dauerten, per Livestream auf dem YouTube-Kanal „Deine Wahl“. Via Twitter konnten während des Interviews Fragen eingereicht und Kommentare abgegeben werden.

 

Erstwähler vs. Politikjournalist

Wie hat die junge Zielgruppe das Interview aufgenommen? Und welchen Eindruck hat das Format auf einen erfahrenen Politik-Redakteur gemacht?

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Und hier der Eindruck unserer 19-jährigen Praktikantin Jacqueline Fritsch, die dieses Jahr zum ersten Mal bei der Bundestagswahl wählen darf:

Welche Themen wurden behandelt?

Die Themenschwerpunkte der vier Interviewer haben gut zu deren Person gepasst. Die aus der Türkei stammende Nihan stellte Fragen zur Integration, zu Flüchtlingen und zu Ausländerfeindlichkeit. „MrWissen2go“ alias Mirko Drotschmann sprach dagegen mehr über das Programm der SPD und große Themen wie über Russland, die USA und Nordkorea. Der als Gamer bekannte Marcel Scorpion war für Fragen der Digitalisierung zuständig und deckte damit ein Gebiet ab, das sich viele schon für das große TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz am vergangenen Sonntag gewünscht hätten. Zum Schluss durfte noch „ItsColesLaw“ auf dem Moderatorenstuhl Platz nehmen, um mit Martin Schulz über Bildung und Tierschutz zu sprechen. Tierschutz? Ja, dieses Thema haben bisher wohl die wenigsten vermisst. Aber gut, Schulz hatte so die Möglichkeit, auch noch seine Frau, die Tierschützerin, mit ins Spiel zu bringen.

Wie kritisch waren die Fragen der YouTuber?

Vor allem die ersten beiden Fragesteller, Nihan und MrWissen2go, haben sehr gute Fragen gestellt und auch klug nachgehakt, wenn Schulz ein interessantes Thema angerissen hat. So richtig kritische Fragen waren aber eher rar. „MrWissen2go“ hat den SPD-Chef mit Umfragewerten konfrontiert und gefragt, ob Schulz seine Chance auf das Kanzleramt schon abgeschrieben hat. Außerdem wollte der Youtuber Schulz etwas aufs Glatteis führen, indem er nach aktuellen Milch- und Butterpreisen gefragt hat. Aber der Plan ging nicht auf – Schulz wusste fast auf den Cent genau Bescheid. Auch die Fragen der Twitternutzer waren nicht auffällig kritisch. Die Zuschauer hatten bei diesem Interview ja eine größere Chance, am Geschehen teilzunehmen, als bei der Sendung mit Angela Merkel vor einigen Wochen. Was gut war: Die Kommentare und Fragen der User haben nicht den Gesprächsfluss gestört, weil nur eine Frage pro YouTuber von außen kam.

War es ein seriöses Interview oder eine nette Plauderei?

Bei Nihan könnte das Interview den Anschein einer netten Plauderei gemacht haben. Sie erzählte viel Persönliches, worauf Schulz auch mit Persönlichem antwortete. Die YouTuberin wirkte locker und brachte ein Gespräch zustande, das erfrischender war als ein gewöhnliches Frage-Antwort-Spiel. Trotzdem war es dadurch nicht unseriös, weil das Gespräch einen roten Faden mit ernsten Fragen hatte.

Die Gesprächsführung von „MrWissen2go“ kam am ehesten wie ein seriöses Interview rüber, weil er sich fachlich gut auskannte und Schulz dadurch auf einer anderen Ebene geantwortet hat. Dieser Stil passte wiederum gut zu den großen politischen Themen und war angebracht.

„ItsColeSlaw“ wollte zwar nicht vor laufender Kamera verraten, woher ihr Künstlername kommt, hat sich aber getraut, das Thema Bildung anzugehen. Als Schulz auf ihre erste allgemein gefasste Frage nicht das geantwortet hat, was sie von ihm wollte, hakte sie nach. Mit der Info, dass Schulz selbst Schulabbrecher ist, brachte sie ihn auch wieder auf eine persönlichere Ebene. Das versuchten alle Interviewer, indem sie am Ende ihrer 15 Minuten eine persönliche Frage an den Kanzlerkandidaten richteten.

Waren Schulz’ Antworten verständlich?

Auf die persönlichen Fragen folgten auch persönliche Antworten und keine, die man bereits in anderen Wahlkampfauftritten gehört hat. Dass Martin Schulz als Jugendlicher eine Packung Waschpulver ins Freibad geschüttet und dann vor der Polizei abgehauen ist, macht ihn sympathisch. Und das sei nur das zweitschlimmste gewesen, was er früher getan hat. Aber auch die politischen Antworten waren gut zu verstehen. Er erklärte den Bundeshaushalt und dass Löhne nicht vom Staat festgesetzt werden. Ganz am Ende der Sendung sagte er, dass es ihm wichtig ist, verständlich zu sprechen. „Ich versuche, den Politiker-Sprech zu vermeiden, weil die Leute, die ich repräsentiere, ja auch nicht so sprechen“, sagte er. Ein weiterer Punkt, warum er die junge Zielgruppe vielleicht wirklich erreichen konnte. Und das womöglich besser als seine Konkurrentin Angela Merkel.

Wie cool war Martin Schulz?

Im Laufe der Interviews schien sich Schulz an die ungewöhnlichen Fragen gewöhnt zu haben. Auf Fragen, die er immer wieder von Journalisten gestellt bekommt, antwortete er einstudiert, wie man es von Politikern kennt. Aber von diesen Fragen kamen nicht so viele wie sonst. Das lockte ihn ein bisschen aus der Reserve. Ganz am Anfang, beim Interview mit Nihan, fiel es ihm sichtlich schwer, eine passende Antwort zu finden. Dann ließ er sich aber auf die Art der Fragesteller ein. Dass er die Anekdote mit dem Waschpulver zugegeben oder erzählt hat, dass er früher alkoholabhängig war und von der Schule geflogen ist, ließ ihn cool erscheinen. Was er aber hätte besser machen können: Nachdem er von seinem Schulabbruch erzählte, gab er dem jungen Publikum mit auf den Weg, dass ein ungewöhnlicher Lebensweg super sei. Das ist ein gewagter Zuspruch für junge Menschen, die die Schule abbrechen wollen.

Was war der Aufreger der Sendung?

Definitiv die meisten und positivsten Twitter-Reaktionen hat die Waschmittel-Geschichte ausgelöst. „Macht ihn sehr sympathisch“ oder „Ich lache gerade mehr als ich wollte“ konnte man dort lesen. Auffällig war, dass Schulz viele Freunde zu haben scheint. Also, echte Freunde, nicht Facebook-Freunde. Er erzählt von seiner Frau, die Tierschützerin ist, von einem vertrauten Kollegen, der kein Fleisch isst, von engen Freunden mit türkischen Wurzeln. Man könnte den Eindruck bekommen, dass er dabei vielleicht manchmal übertreibt, vor allem als er gegenüber Nihan sagte: „Ganz viele aus Ihrer Community gehören zu meinen engsten Freunden“.

Weiß man nach dem Interview, wofür Schulz und die SPD stehen?

Es ist schwierig, nach einer Stunde Interview zu sagen, wofür die gesamte Partei steht. Auf die SPD selbst kam nur „MrWissen2go“ zu sprechen. Schulz sagte zum Beispiel, dass die SPD eine Mindestvergütung für Auszubildende einführen möchte. Schulz selbst steht gefühlt für alles. Egal, welches Thema die YouTuber angesprochen haben, Schulz antwortete mit „Natürlich muss man da was machen“ und „Das müssen wir unterstützen“. Schulz will Geld ausgeben für Kitas, Integration, ein einheitliches Schulsystem, den Breitbandausbau, E-Sports und die Bekämpfung von Internetkriminalität. Da bekommt man doch den Eindruck, dass Martin Schulz vier Jahre Amtszeit gar nicht ausreichen würden, um all diese wichtigen Themen anzugehen. Welche Prioritäten er setzt, bleibt jedoch offen.

Kann Schulz mit diesem Format die Generation YouTube gewinnen?

Auf jeden Fall hat sich Martin Schulz mit dem Interview nicht unbeliebt gemacht bei den YouTube-Nutzern. Mit verständlichen Antworten und einer offenen Haltung gegenüber persönlichen Fragen hat er gepunktet. Vielleicht war es ein bisschen überheblich zu sagen, dass die Deutschen ein glücklicheres Volk wären, wenn er Bundeskanzler wäre. Aber das kann ja jeder für sich beurteilen und sein Kreuz am 24. September entsprechend setzen.