Die Sängerin Yvy Pop und der Filmkomponist Christian Bluthardt überlassen die schrecklichen Bilder der Fantasie: Jüngst veröffentlichten die beiden Stuttgarter ihren Soundtrack zu einem Kannibalen-Film, den es nicht gibt.

Stuttgart - Endlos streicht die Kamera über die Regenwälder. Ein kleines weißes Flugzeug gleitet übers Grün, dann ein Helikopter, dann wieder ein Flugzeug. Ein Absturz, und immer wieder schleppen sich die Überlebenden ans Ufer, um gefressen zu werden. Vor vier Jahrzehnten schwemmte eine Welle billiger und grausamer Filme durch die Kinos; in der Imagination des Publikums erstehen sie nun neu. Das Duo Mondo Sangue, hinter dem sich der Filmkomponist Christian Bluthardt und die Sängerin Yvy Pop verbergen, produzierte „L’Isola dei Dannati“ („Die Insel der Verdammten“), den Soundtrack zu einem Kannibalen-Film, der niemals gedreht wurde. Bei der Präsentation des Werkes im Theater Rampe lauschte man hypnotischen Klängen, die ein wildes Gemetzel evozieren: ein Projekt, so kurios wie clever, ein Spiel mit den Versatzstücken eines einst so extremen wie populären Genres, ein Abend zwischen Vergnügen und Verwunderung.

 

Yvy Pop heißt eigentlich Yvy Heußler. Sie ist Dozentin an der Merz Akademie, sang in Punkbands, hat ein Buch über die Punk-Bewegung geschrieben, moderiert die Sendung „Radio Harakiri“ beim Freien Radio Stuttgart und organisierte Filmfestivals. Christian Bluthardt arbeitete bis 2013 in der Stuttgarter „Filmgalerie 451“. Vor drei Jahren drehte er mit „Zwischen Himmel und Hölle“ seinen eigenen finsteren Schwarzwaldgrusel; seither arbeitet er als freier Komponist und Filmschaffender in Stuttgart. Die Tricks der Kannibalenfilme, den musikalischen Glanz, mit dem sie das Blutbad konterkarieren, beherrscht er: Er ist ein Fan.

Großes Vorbild: der Komponist Riz Ortolani

„Meine erste Kannibalenfilmplatte“, erzählt er, „kam unmittelbar nach der Sichtung des ersten Kannibalenfilms in die Sammlung“ - „Cannibal Holocaust“ war das, der späte und berüchtigte Höhepunkt der Welle von 1980. „Der Film hat sich nicht nur wegen seiner drastischen Bilder und seiner sehr intensiven Handlung bei mir eingebrannt, sondern auch wegen seiner starken und wunderschönen Musik.“ Riz Ortolani heißt der Komponist, der die Soundtracks für etliche Filme des italienischen Genre-Kinos schrieb; er starb 2014. Yvy Pop fand Zugang zum Kannibalen-Film vor allem durch diese Musik und schwärmt nicht nur für Ortolani: „Schon vor 20 Jahren verliebte ich mich in den Soundtrack zu Joe D’Amatos ‚Emanuelle e gli ultimi cannibali’“, erzählt sie. „So trashig der Film war, so zum Sterben schön war der Score von Nico Fidenco.“ Zwei ihrer Studentinnen gestalteten das Artwork des Horror-Albums: Nackte Brüste, blutrünstige Blicke, bissige Urwaldbewohner, aquarelliert in satten Rottönen.

Cristiano Sangueduro und Ivana Cristina Casereccia – so nennen sich Yvy Pop und Christian Bluthardt auf dem Plattencover. Ausgeheckt haben sie ihr Projekt im Sommer 2015 in Bluthardts Tonstudio: „Bei einem kühlen Radler schwelgten wir in den alten Vinyl-B-Scores.“ Dabei kam ihnen die Idee zum „ultimativen“ Kannibalen-Film, einem nämlich, bei dem die ohnehin spärliche Handlung ganz auf die Klischees reduziert ist, die von der Musik aufgerufen werden. „Wir haben den Film in einzelne Szenen unterteilt, die wir Englisch und Italienisch betitelt haben. Dann haben wir über Stimmungen, Instrumente, bestimmte Rhythmen und Soundmoods wie Wellen oder Papageien diskutiert. Und irgendwie waren wir schon nach zwei Stunden fertig. Wir hatten exakt die gleiche Vorstellung von dem, was wir machen wollen“, erzählt Yvy Pop.

Kannibalen-Filme, lachhaft schlecht und erschreckend gut

Zur Präsentation ihres Werkes in der Rampe luden sie sich den Stuttgarter Kannibalen-Film-Experten Gaston Stoff ein, einen Enthusiasten, der sie alle kennt: Die Schauspieler, die Regisseure, die Filme. Weit mehr als zwei Stunden lang erklärte das Trio den Kannibalen-Film, auf der Leinwand dabei eine gute Auswahl an Filmplakaten, in die sich das von „L’Isola dei Dannati“ unauffällig einfügte. Man hörte von verrückten Regisseuren, die Hunderte von Filmen unter unzähligen Pseudonymen drehten, von haarsträubenden Produktionsbedingungen, von heruntergekommenen Bond-Girls, die im Dschungel wieder auftauchten, von Filmen, lachhaft schlecht, und Filmen, erschreckend gut. Auch von den realen Tierquälereien, die in vielen Filmen des Genres zu sehen sind, von Schauspielern, die sich deshalb weigerten, ihre Arbeit fortzusetzen.

Die Fans zucken die Schultern und sprechen von den „Schattenseiten“ des Genres, geben aber zu: „Ich wollte das einmal gesehen haben.“ Das Splatter-Faible hat seine Wurzeln auf dem Schulhof; aus pubertierenden Jungs, die Video-Kassetten tauschten, wurden Erwachsene, die alle Jahre wieder in ihr Reich der billigen, blutigen Träume zurückkehren. Kannibalen-Fans, das zeigt sich, sind freundliche, gut sozialisierte Zeitgenossen, die sich ihre merkwürdige Vorliebe oft selbst nicht erklären können: „Das ist so schlecht, das kann man einfach nicht ernst nehmen. Das ist großartig!“

Die Filme sind auf großartige Weise schlecht

In der Rampe wurde lange diskutiert: über Licht und Kameraeffekte, über Stimmungen und Bilder, die dem Art-House-Kino nicht so fern sind. Können fehlendes Geld, schieres Unvermögen und dreister Zynismus Kunst entstehen lassen? Zuletzt flimmerte eine Montage aus Kannibalen-Filmen über die Leinwand, begleitet vom neuen Soundtrack. „Yvy kann ein bisschen singen“, sagt Christian Bluthardt - und das kann sie in der Tat, ihr Gesang schwebt so freundlich und unbeschwert im sphärischen Easy-Listening-Sound, dass man das Gemetzel glatt vergisst.

Der Kannibalen-Film ist ein Artefakt der schillernden 1970er Jahre, in denen die populäre Kultur ihre extremsten Blüten hervorbrachte. Und genau darin liegt die Faszination, die das Genre heute ausübt – auf Menschen, die niemals Videokassetten sammelten, ebenso wie auf Regisseure wie Quentin Tarantino: Ein schrilles, cooles Kuriosum aus einer fernen Zeit.

Yvy Pop und Christian Bluthardt wollen die Welt des Genre-Kinos weiter erkunden - „Wir haben einen Zehnjahresplan“, sagt die Sängerin. Noch mehr imaginäre Soundtracks, Metafilme, wollen sie produzieren: Giallo, Erotika, Spaghetti-Western, selbst die Nouvelle Vague möchten sie sich vornehmen. Bleibt zu hoffen, dass auch diese Extravaganzen wieder als schweres Vinyl auf dem Stuttgarter Filmmusik-Label Allscore erscheinen werden.