Im Zahnradbahn-Gespräch spricht die Boxweltmeisterin Alesia Graf über ihre Kindheit in einem weißrussischen Waisenhaus, über einen entzogenen Führerschein und über den nächsten WM-Kampf.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Heinz Schultz will es jetzt noch einmal definitiv wissen. „Wir haben wirklich alle einen Fahrschein?“ Zum zweiten Mal: ja. Die wiederholte Sorge ist allerdings auch verständlich. Die Überschrift „Alesia Graf beim Schwarzfahren erwischt“ kann der Trainer, Manager und Geschäftspartner der Boxweltmeisterin unmittelbar vor dem nächsten Kampf und nach einem im alkoholisierten Zustand verursachten Unfall nun überhaupt nicht gebrauchen. Im September 2016 hatte Alesia Graf nach einer Party im Stuttgarter Restaurant „Amici“ mit ihrem Wagen ein parkendes Auto touchiert. Dafür erhielt sie eine Strafe in Höhe von 3500 Euro und ein siebenmonatiges Fahrverbot, das nun seit Februar gilt.

 

Die Tschnernobyl-Katastrophe

Alesia Graf ist zurzeit also verstärkt auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Was dann ziemlich gut zum Zahnradbahn-Gespräch passt, in dem es um die Höhepunkte und Tiefpunkte in der Karriere der Frau gehen soll, die 1980 in Weißrussland als Alesia Klimowitsch geboren wird. Aufgewachsen ist sie in Gomel, in einem Waisenhaus. Als sie fünf Jahre alt ist, kommt es im 130 Kilometer entfernten Tschernobyl zur Atomkatastrophe, unter der die Region Gomel durch radioaktiven Niederschlag besonders stark leidet. Sehr viele Fälle von Schilddrüsenkrebs treten hier auf. Alesia Graf bleibt gesund, auch weil sie zur Beobachtung nach Polen und in die USA geschickt wird. „Wer so eine Kindheit hat, für den relativieren sich später sogenannte Tiefpunkte“, sagt Alesia Graf, die damit den Führerscheinverlust aber nicht schön reden will. „Das war eine Dummheit“, sagt sie und wird von ihrem Trainer korrigiert: „Eine riesengroße Dummheit.“

In der Zahnradbahn soll es auf dem Weg nach Degerloch aber zunächst einmal um die Höhepunkte in Alesia Grafs Leben gehen. Ein solches positives Erlebnis hat sich 2014 allerdings nur angekündigt, als sich das weißrussische Fernsehen bei ihr mit einer existenziellen Nachricht meldet. „Man hat mir mitgeteilt, dass meine Mutter aufgetaucht sei“, erzählt Alesia Graf, die viele Jahre die Frau gesucht hatte, von der sie kurz nach der Geburt weggegeben wurde.

Das Wiedersehen erfüllt die großen Erwartungen nicht, das Verhältnis zur Mutter bezeichnet Alesia Graf jetzt als „neutral“. Sie erfährt damals ja auch, dass ihre Schwester bei den Großeltern aufgewachsen ist, während sie selbst ins Heim kam. Das Geld habe nicht gereicht, wird Alesia Graf gesagt. Und die befürchtet, dass es auch das Geld ist, was sie für ihre Familie jetzt interessant macht. Nachdem Alesia Graf ihre Verwandtschaft gefunden hat, sucht sie nicht mehr den Kontakt zu ihr.

Unbeschwert trotz einer belastenden Geschichte

Trotz einer belastenden Familiengeschichte sitzt eine unbeschwerte Frau in der Zahnradbahn, die gut gelaunt von ihren sportlichen Erfolgen erzählt. Wie sie 2003 erst deutsche Amateurmeisterin geworden ist und ein Jahr darauf Profi im Hamburger Universum-Boxstall von Klaus-Peter Kohl; wie sie Karriere machte und Weltmeisterin in verschiedenen Verbänden wurde, in großen Hallen und mit viel Fernsehpräsenz. Auch eine Niederlage gehört zu ihren Höhepunkten, als es Alesia Graf 2010 in Mexiko-City mit Ana Maria Torres zu tun bekam – und mit 40 000 euphorischen Fans in der größten Stierkampfarena der Welt. „Eine sensationelle Erfahrung“, sagt Alesia Graf, die lediglich vier ihrer bisher 30 Profikämpfe verlor. Eine beeindruckende Bilanz für die Frau mit dem Kampfnamen „The Tigress“. Die Tigerin kam ja überhaupt erst mit 20 zum Boxen.

Zuvor kam Alesia Graf aber nach Freiburg – als Au-pair, das gerade in Weißrussland Abitur gemacht hatte. „Ich war pummelig, aß oft bei McDonald’s und las viel Zeitung, um Deutsch zu lernen.“ So kam ihr irgendwann auch ein Artikel über Regina Halmich in die Hände. Heraus kam der gewagte Entschluss: „Ich will auch Boxerin werden.“ Sie wird auch Deutsche, nachdem sie den Mann geheiratet hatte, dessen Namen sie auch nach der Scheidung trägt. „Die Beziehung hat nicht funktioniert“, sagt Graf. Eine andere Beziehung funktioniert besser: die geschäftliche zu Heinz Schultz, der sie von Anfang an trainiert hat und mit dem sie mittlerweile auch eine Boxschule betreibt.

Schultz ist immer wieder beeindruckt von der Bantamgewichtlerin, von deren Härte gegen sich selbst und verzieht dann schmerzverzerrt sein Gesicht. Das ist die Bebilderung zur Geschichte eines WM-Kampfes im Jahr 2009 gegen die Amerikanerin Terry Lynn Cruz, in dem Graf, ohne es zu wissen, mit einem doppelten Kieferbruch weiter boxt und gewinnt.

Uwe Hück und die nächste WM-Aufgabe in Kapstadt

Für Alesia Graf ist das auch ein Höhepunkt, für ihren Trainer grenzwertig und am Zacke-Wendepunkt in Degerloch der Übergang zu den Tiefpunkten. Im Negativbereich war die 36-Jährige schon ganz am Anfang ihrer Profi-Karriere. 2005 verliert sie ihren ersten WM-Kampf gegen die Jamaikanerin Alicia Ashley nach Punkten und wird danach das Gefühl nicht los, dass der Universum-Boxstall nicht mehr voll hinter ihr steht. „Und die vielen Schulterklopfer waren auch ganz schnell verschwunden.“ Sie habe früh erfahren müssen, dass Boxen ausschließlich ein Geschäft ist, in dem möglichst schnell möglichst viel Geld verdient werden soll.

Es war eine Zeit, in der die Nachfolgerin für Regina Halmich gesucht wurde. Für den Posten als neue deutsche Vorzeigeboxerin kamen gleich drei Univerum-Frauen infrage: neben Alesia Graf, Ina Menzer und Susi Kentikian. Weil Graf glaubte, von diesen drei am wenigsten Management-Unterstützung zu bekommen, wollte sie den Vertrag auflösen lassen. Der Boxstall wusste diesen Plan aber juristisch zu unterbinden, wie in einigen anderen Fällen auch. Zur Trennung führte dann erst der Universum-Niedergang 2010, der in der Insolvenz endete. Seitdem machen Alesia Graf und Heinz Schultz ihr eigenes Ding. Das führte die Boxerin 2011 auch für eine Jahr nach Australien. Dort verhalf sie dem Frauenboxen mit zwei WM-Kämpfen zu einem professionellen Image.

Davon erzählt sie im Café Kaiserbau, wo das Zacke-Gespräch traditionell endet. Und von ihrer nächsten WM-Aufgabe am 31. März in Kapstadt gegen die Südafrikanerin Bukiwe Nonina. Im Rahmen dieser Veranstaltung findet auch der Benefiz-Kampf zwischen dem Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück und dem Kultschwergewichtler Francois Botha statt. Ein Großteil des eingenommenen Geldes soll einem Jugend-Boxclub in Kapstadts größtem Township zugutekommen. „Eine schöne Sache“, sagt eine, die weiß, wie es ist, wenn man sich von klein auf durchboxen muss.