Die Universität Tübingen leistet sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Zeicheninstitut für Studenten aller Fakultäten. Die Einrichtung ist bundesweit einzigartig. Doch Ende September geht der Institutsleiter Frido Hohberger in den Ruhestand – wie es weitergeht, ist offen.

Tübingen - Versteckter könnte das Reich der Farben und Formen kaum sein. Durch die Marmorgänge des klassizistischen Prachtbaus der Juristen geht es in den dritten Stock hinauf – vorbei an Gipsschönheiten, an Seminarräumen, in denen Paragrafen auseinandergenommen werden. Unten dominiert Strenge, oben beflügelt Leichtigkeit: Im Zeichensaal mit dem bunt gesprenkelten Parkett sitzen ein gutes Dutzend Studenten über ihre Skizzen gebeugt. Es ist eine konzentrierte Ruhe, Stifte huschen über Blätter.

 

Ein neuer Semesterkurs hat an diesem Vormittag begonnen im Zeicheninstitut der Tübinger Universität. Eine Einrichtung, die viele Rektoren und Reformen überlebt hat und die längst ein Unikum ist. Landauf, landab gibt es nichts Vergleichbares mehr. Wie lange es den Kunstraum mit seinem kostenlosen Angebot für Studierende aller Fakultäten noch geben wird, ist fraglich. Nach mehr als 200 Jahren könnte das Institut geschlossen werden, ein Nachfolger für den Ende September in Ruhestand tretenden Leiter Frido Hohberger ist nicht in Sicht. Noch nicht einmal eine Ausschreibung der Stelle ist erfolgt.

An der Uni denkt man auch über ein neues Format nach

„Wie es weitergeht, wird derzeit diskutiert, der Entscheidungsprozess ist noch nicht abgeschlossen“, sagt die Pressesprecherin der Universität, Antje Karbe. Alles sei denkbar, auch ein ganz neues Format, mehr könne sie nicht sagen. Bisher ist das Institut mit seinen Räumen in der Neuen Aula und dem recht überschaubaren Budget von 15 000 Euro im Jahr der zentralen Verwaltung unterstellt.

Die Ungewissheit treibt Hohberger um, an Zukunftskonzepten wurde er nicht beteiligt. Der 67-Jährige ist ein Mann mit silberner Brille, sicherem Strich und bescheidenem Auftreten. Er ist Pädagoge, Künstler, er wird zum Mahner, wenn es sein muss. „Das Zeicheninstitut ist ein Alleinstellungsmerkmal der Universität“, sagt er, dieses Angebot zu erhalten müsste für die Hochschule die vornehmste Aufgabe sein. In Zeiten, wo der Kunstunterricht an den Schulen zurückgefahren und immer mehr Effizienz von Studenten gefordert werde, brauche es leistungsfreie Bereiche. „Bei uns wird der Mut zum Individuellen geweckt“, sagt Hohberger und erzählt von einem Medizinstudenten, der den Ausgleich zum Lernen bitter benötigte. „Ohne das Zeicheninstitut hätte ich nie das Physikum geschafft“, schrieb er voller Dank in einer E-Mail an Hohberger.

Vor allem die Kurse in Aktzeichnen sind begehrt

Es ist das sinnliche Erleben, das freie Arbeiten – allein und doch in der Gruppe –, das die Studenten anzieht. Die Listen am Schwarzen Brett für die Kurse sind voll, etliche überbucht. Begehrt sind das Aktzeichnen mit seinen Nacktmodellen, die Fotografie, auch Malen mit Ölfarben oder ein Comic-Zeichenkurs werden angeboten. Zehn Lehrkräfte unterstützen den Leiter, der sich um alles kümmert: von den Verwaltungsaufgaben übers Unterrichten bis zum Einkauf der Materialien. Wenn es sein muss, fegt er auch mal durch. „Ich habe alle Freiheiten bei meiner Arbeit, ich liebe die Räume“, sagt Hohberger, der seit 22 Jahren Herr über die Kurse ist. Der geräumige Saal mit seiner milchigen Decke aus Glas ist ideal fürs künstlerische Schaffen, der Blick ins Freie ist auf zwei winzige runde Fenster beschränkt, nichts lenkt ab. Plein-Air-Malerei oder Ausflüge stehen sowieso auf dem Programm des Instituts. Hohberger nutzt jede Gelegenheit, um mit den Studenten in die Sammlungen der Universität zu gehen. Er lässt Tierschädel skizzieren oder geht mit den Zeichnern für Herzstudien in die Pathologie. In Kooperation mit dem Studio für Theater und Literatur erhalten Texte bildnerischen Geleitschutz.

Selbst in der Kunsthalle Tübingen sind Werke der Studierenden und Lehrenden des Zeicheninstituts schon zu sehen gewesen. Aber Hohberger will in der Neuen Aula alles andere als ein Eliteinstitut etablieren. „Die Leute sollen Freude empfinden, sich persönlich entwickeln“, sagt er, „sie sollen erleben, was es bedeutet, eine Spur auf dem Papier zu hinterlassen.“

Breites Programm an musischen und sportlichen Kursen

Den Bleistift hält die junge Chinesin Yuanyuan Zong voller Achtsamkeit. Die Linguistin im fünften Semester hat das Curriculum des Zeicheninstituts im Studium-generale-Programm entdeckt und sich gefreut, dass es in Tübingen etwas gibt, was ihre Heimatuniversität Qingdao nicht bietet: ein breit gefächertes Programm an musischen und sportlichen Kursen. Tennis, Fechten, Klettern und Ölmalerei hat sie ausprobiert, dieses Semester wagt sie sich ans Zeichnen. Eine schnelle Skizze, sie zeigt einen Schal, der über einem Stuhl hängt: Die 25-Jährige ist zufrieden mit dem Werk. „Ich will nicht immer nur auswendig lernen“, sagt sie, „ich will auch beobachten, interpretieren, zeichnen.“

Was als Bestandteil einer humanistischen Bildung an der Universität fest verankert wurde, hat sich bewährt. Das Institut entwickelte sich zu einem Raum des offenen Kunstschaffens, da zeichnet die Sportstudentin neben dem Professor, es darf dilettiert und experimentiert werden, es sitzen Anfänger neben Könnern. „Es gibt kein Richtig oder Falsch“, sagt Frido Hohberger und klärt nebenbei mit dem studentischen Aktmodell noch ein paar Fragen.

Wie es mit der Tradition weitergeht, würde er gerne wissen. Schon vor ein paar Jahren hat er eine Dependance in der Alten Physik gleich um die Ecke abgeben müssen – aus Brandschutzgründen. Die Keramikkurse zogen in die Volkshochschule um, der eigene Brennofen ist seither Geschichte. Er kenne bundesweit nur ein einziges vergleichbares Institut, das sei in Berlin, sagt Hohberger und zieht einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2009 über das Seminar für künstlerisch-ästhetische Praxis an der Humboldt-Universität aus einem Ordner. Was Hohberger nicht weiß: Mit dem Ruhestand der Leiterin 2016 ist das Seminar geschlossen worden.