Zu Unrecht wurde ein Mann 2007 zwei Monate lang in der Psychiatrie festgehalten und mit Medikamenten behandelt. Nun erst entschied ein Gericht, dass er dafür 25.000 Euro Schmerzensgeld bekommt. Ein Lehrstück, das beklommen macht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart / Karlsruhe - Niemand hat es bisher für nötig gehalten, sich bei Wolfgang Maier (Name geändert) zu entschuldigen. Inzwischen steht vollends fest, dass ihm Unrecht widerfahren ist, als er im Sommer 2007 für zwei Monate gegen seinen Willen in der Psychiatrie festgehalten und medikamentös zwangsbehandelt wurde. Doch ein Wort des Bedauerns hörte der Mittvierziger aus dem Bereich Konstanz bis heute von keinem der Beteiligten.

 

Nicht von den Polizeibeamten, die ihn an einem Junitag ohne ersichtlichen aktuellen Anlass festnahmen und in Handschellen ins Zentrum für Psychiatrie Reichenau brachten. Nicht von den dortigen Ärzten, die eine „Psychose mit Verfolgungswahn“ diagnostizierten und ihm bescheinigten, er sei eine Gefahr für sich selbst und andere. Nicht von den Richtern des Vormundschaftsgerichts in Konstanz, die sich auf die Ärzte verließen und die Unterbringung wunschgemäß anordneten und später verlängerten.

Richter verfügen 25.000 Euro Schmerzensgeld

Auch nicht von den Richtern des Landgerichts Konstanz, die seine Beschwerde nach der Entlassung zunächst zurückwiesen und den Zwangsaufenthalt erst nach einem Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG Karlsruhe) 2009 doch noch als rechtswidrig einstuften. Und ebenso wenig von anderen Richtern eben jenes Landgerichts, die 2011 seine Klage auf Schmerzensgeld zurückwiesen, weil die Zwangsmaßnahme doch zumindest vertretbar gewesen sei.

Erst jetzt, achteinhalb Jahre später, erfährt Maier eine gewisse Wiedergutmachung. Der Träger der psychiatrischen Klinik, die zum Verbund der landesweit sieben Zentren gehört, muss ihm 25 000 Euro Schmerzensgeld bezahlen und zudem etwa 5000 Euro Kosten für mehrere Anwälte, jeweils zuzüglich Zinsen. So hat es das OLG Karlsruhe auf seine Amtshaftungsklage hin in einem jüngst ergangenen Urteil entschieden (Aktenzeichen 9 U 78/11).

Denkbar schlechtes Zeugnis für Ärzte

Ob Maier wirklich psychisch krank war oder ist – was er bestreitet – , spielte für die Richter des 9. Zivilsenats keine Rolle. Dies alleine hätte keine zwangsweise Unterbringung rechtfertigt, dazu müsste eine Eigen- oder Fremdgefährdung hinzukommen. Für eine entsprechende Prognose aber habe es „keine Grundlage“ gegeben. Die Ärzte hätten dabei „grundlegende fachliche Standards missachtet“ und somit ihre Pflicht verletzt, befand der Senat.

Dabei stützte er sich maßgeblich auf das Gutachten eines Sachverständigen. Ob eine Psychose vorlag oder nicht, ließ der Professor offen; die Diagnose erscheine ihm zumindest vertretbar. Weder für sich noch für andere sei Maier aber eine Gefahr gewesen, da hätten de Ärzte „elementare Grundsätze“ der Psychiatrie verletzt. Anhaltspunkte für einen Suizid habe es ebenso wenig gegeben wie für eine Bedrohung Anderer. Die Richter schlossen sich ihm uneingeschränkt an. Es fehlten Tatsachen, „die auch nur ansatzweise eine Gefährdungsprognose hätten rechtfertigen können“, schrieben sie ins Urteil. Ohne diese aber wäre es nicht zu der Zwangsunterbringung gekommen.

Am Anfang stand Willkür der Polizei

Zu den Motiven für die „unrichtigen ärztlichen Zeugnisse“ äußerte sich der Senat nicht, umso deutlicher aber zu deren Auswirkung. Zwangsweise in einer psychiatrischen Klinik untergebracht zu werden sei „ein besonders demütigendes Erlebnis“, schlimmer noch als eine vergleichbar lange Haft. Zudem sei es für den Betroffenen und seine weitere Zukunft „erheblich stigmatisierend“. Wenn der Aufenthalt bekannt werde, könnten Behördenmitarbeiter, künftige Arbeitgeber oder Vermieter ihn für psychisch krank halten und entsprechend behandeln – trotz der festgestellten Rechtswidrigkeit. Für die „Freiheitsentziehung von fast zwei Monaten“ erschien den Richtern mit 25 000 Euro denn auch ein ungleich höherer Betrag angebracht, als er etwa als Haftentschädigung gewährt worden wäre; stark ins Gewicht falle zudem das „Maß des Verschuldens“ – der Ärzte.

Über die Schuld der Polizei, die alles ins Rollen brachte, urteilte der Senat nicht. In der ausführlichen Darstellung des Sachverhalts erscheint diese indes dubios. Mehrfach sei Maier in der Vergangenheit „polizeilich aufgefallen“, etwa weil er im Freien übernachtet oder aus dem Fenster geschrien habe. Dass er eine Gefahr für sich oder andere sein könnte, lasse sich daraus nicht ableiten. Seine Einlieferung in die Psychiatrie sei offenbar schon Monate zuvor geplant gewesen, ein aktueller Anlass ergebe sich weder aus den Akten noch aus den Angaben der Klinik. Diese habe auch nicht erklären können, warum die Beamten zwar ein Aktendossier mitgebracht, aber nicht erlaubt haben sollen, Kopien der Dokumente zu machen. Dann kam die Maschinerie in Gang – und ließ sich nicht mehr aufhalten.

Die Klinik verteidigte sich bis zuletzt

Gegen die Willkür wehrte sich Maier mit mehreren Strafanzeigen, die offensichtlich versandeten; näher lässt sich das nicht mehr nachvollziehen. Mehrfach wechselte er die Anwälte, als besonders dankbar gilt ein solches Mandat nicht. Schließlich hatte er das Glück, an Markus Schnell aus Überlingen zu geraten. Der Fachanwalt für Medizinrecht nahm sich des Falles hartnäckig an und focht ihn durch. Entmutigen ließ er sich weder durch die Niederlage vor dem Landgericht, das sich mit der Sache nicht allzu viel Mühe machte, noch durch die Unbeirrbarkeit der Klinik: Nichts hätten ihre Ärzte bei der Aufnahme und den Attesten falsch gemacht, beharrte diese, maßgeblich seien vor allem die Informationen der Polizei gewesen. Beim OLG landeten Maier und Schnell schließlich bei einem Senat, der den Fall äußerst gründlich aufarbeitete – was freilich noch einmal Jahre dauerte. Achteinhalb Jahre für sein Recht zu kämpfen, noch dazu lange vergeblich: die Kraft dazu muss man erst einmal aufbringen. Das kann schon einen psychisch Gesunden zermürben, einen angegriffenen erst recht.

Das Zentrum für Psychiatrie Reichenau erfuhr angeblich erst durch die StZ-Anfrage von dem Urteil. Was man dazu sage? Auf jeden Fall werde nun nicht gegen das Land vorgegangen, dem die Klinik in dem Verfahren vorsorglich „den Streit erklärt“ hatte. Begründung: letztlich seien dessen Richter für etwaige Amtspflichtverletzungen verantwortlich. Alle anderen Fragen, sagte der Vize-Geschäftsführer, müsse das Sozialministerium in Stuttgart beantworten – auch die, ob nun nicht doch eine Entschuldigung bei Wolfgang Maier angebracht wäre. Nach achteinhalb Jahren.