Im Hotel zur Barbarei: der Regisseur David Bösch inszeniert in Stuttgart das Dreipersonenstück „Zerbombt“ von Sarah Kane. Bei aller Drastik legt er sein Augenmerk auf die Psychologie der kaputten Figuren – ein starker Abend in der Spielstätte Nord.

Stuttgart - Als Sarah Kanes „Zerbombt“ 1995 in London uraufgeführt wurde, lautete der Vorwurf, sie wolle nichts weiter als Tabus brechen. Zugegeben, die früh verstorbene Autorin – sie nahm sich 1999 mit nur 28 Jahren das Leben – spart in diesem Dreipersonenstück weder drastisches Vokabular noch explizite Darstellungen von psychischer und physischer Gewalt aus. Doch der Autorin geht es, nicht anders als in ihren anderen vier Werken auch, um seelische Isolation und um die Brutalität, die Menschen sich und anderen, vorwiegend aus Verzweiflung, antun. Dieser Intention folgend ist die Inszenierung von „Zerbombt“ im Nord, der Dependance des Stuttgarter Schauspiels, nun weniger schockierend als vielmehr: verstörend.

 

Der Abend beginnt in einem überdimensionierten Hotelzimmer, der Spielraum ist rundherum mit dunklem, weichem Teppich verkleidet und strahlt zunächst eine gedämpfte Geborgenheit aus, die später mit einem wirkungsvollen Kniff zu einer zerbombten, kaputten Welt wird (Bühne: Patrick Bannwart). Doch noch scheinen alle Zeichen auf „heile Welt“ zu stehen: Cate, eine burschikose, kindliche Frau, erkundet mit positiver Neugier den Raum und kann sich am Luxus des Hotelzimmers erfreuen. Eine Figur mit einer liebenswerten, an Debilität grenzenden Naivität, die das schwere Stück durch humorvolle Momente auflockert. Als Ian, ein zynischer, eiskalter Journalist, dazukommt, verliert Cate ihre bejahende Ausstrahlung, er verunsichert sie und macht ihr Angst, dennoch umsorgt die Frau diesen Mann. Schnell wird klar: die beiden führen eine kranke Beziehung, in der Macht und nicht Liebe vorherrscht. Ian dominiert Cate, nutzt schamlos aus, dass sie zu naiv ist, sein Spiel zu durchschauen, und zwingt sie erst mit psychischem, dann mit physischem Druck zum Sex.

Beziehungen, an die sie nicht glauben

Maja Beckmann glänzt als Cate. Die Schauspielerin bringt nicht nur deren Ticks – ihr Stottern und ihre Anfälle, wenn sie unter Druck gerät – authentisch auf die Bühne, sondern schafft es auch, Mitgefühl gegenüber der Figur auszulösen. Mitgefühl, kein Mitleid – eine notwendige Differenzierung, denn Cate ist zwar naiv, aber keinesfalls schwach. Auch wenn sie in der Beziehung zu Ian eine Verliererin zu sein scheint: im Leben ist sie dank ihres gesunden, den Widrigkeiten immer trotzenden Pragmatismus kein Opfer.

So überzeugend Maja Beckmann die Entwicklung ihrer Figur umsetzt und die puristische, schnörkellose Sprache Sarah Kanes gekonnt variiert, so wenig schafft dies Robert Kuchenbuch als Ian. Zu wenig Natürlichkeit ist bei ihm zu spüren, oft wirken die Worte zu künstlich, zu distanziert, es fehlt der Rhythmus der Vorlage. Mit gutem Willen könnte man sagen: So verlangt es eben die Rolle. Ian ist eine Figur, die jeden Bezug verloren hat, den Bezug zu eigenen Gefühlen und zu den Gefühlen anderer. Bei ihm verkümmert die Sprache zur Phrase, die er nur noch benutzt, um Beziehungen aufrecht zu erhalten, an die er nicht mehr glaubt. Weiter könnte man interpretieren, dass die fehlende Interaktion mit den anderen Spielern genau diese Vereinsamung, Gefühlskälte und Isolation symbolisiert, die Sarah Kane ihrem Stück eingeschrieben hat. Doch an manchen Stellen stört die Monotonie seines Spiels, fehlen Brüche, Umschwünge, Variationen in Charakter und Sprache.

Sex, Vergewaltigung, Kannibalismus

All das hingegen gelingt Manolo Bertling als Soldat, der im surrealen Teil des Stückes auftaucht. War bislang Ian der Aggressor gegenüber Cate, verschiebt sich jetzt das Gefüge: Der Soldat dominiert Ian, erzählt ihm von seinen Gräueltaten, die er während des Kriegs begangen hat, von Vergewaltigungen und sinnlosen Morden. Er scheint jegliches menschliches Gefühl verloren zu haben. Wenn er aber von seiner Freundin erzählt, die er auf brutale Weise verloren hat, blitzt Empfindsamkeit auf, Verzweiflung, Trauer. Dann hadert er mit den Zuständen, seinen inneren und äußeren. Doch der Soldat schafft es nicht mehr zurück zur Menschlichkeit, er ist gefangen in seinem Albtraum, in seiner bestialischen Erfahrungswelt. Er kann nicht anders und befriedigt sein Bedürfnis nach Sex und Nahrung an und mit Ian, bevor er sich aus Verzweiflung erschießt.

Diese Szene ist ein schlagendes Beispiel dafür, worauf der Regisseur David Bösch sein Hauptaugenmerk legt: Was Sarah Kane in ihrem Stück beschreibt – der Soldat vergewaltigt Ian und isst danach dessen Augen –, setzt er nicht drastisch um, sondern deutet es szenisch nur an. Bösch legt einen Black über den sexuellen Akt und belässt die folgende blutige Szene im Halbdunkel. Der Brutalität der Aktion tut dies keinerlei Abbruch, doch die Psychologie der Figuren bleibt im Vordergrund und verliert sich nicht in Effekthascherei. Der Blick in die menschliche Psyche – sollte sie denn so sein, wie die depressive Sarah Kane sie sieht – ist auch so schon erbarmungslos genug. Bösch lässt in seiner Inszenierung dem Text und dem Zuschauer genügend Raum, sich den bohrenden Fragen des Stücks zu widmen: Sind wir Menschen denn tatsächlich nichts als Bestien, allein durch die Zivilisation gebändigt? Bricht die uns angeborene Aggressivität aus, sobald die Gesellschaft instabil wird? Ist der Urzustand des Menschen ein „Krieg aller gegen alle“, wie der Philosoph Thomas Hobbes vor mehr als drei Jahrhunderten behauptet hat? Ist es dieser Krieg, den die Autorin ins Hotelzimmer einbrechen lässt, wo die Protagonisten Cate und Ian ihren persönlichen Kampf ausfechten? Symbolisiert er die Aufhebung aller moralischen Grenzen?

Sarah Kane stellt in „Zerbombt“ die großen Fragen nach dem Wesen des Menschen. Und dem Regisseur David Bösch gelingt es, die großartige Vorlage präzise, sensibel und mit angemessener Härte und Konsequenz umzusetzen, ohne die verzweifelt komischen Aspekte zu unterschlagen. Ein eindringliches und nachhaltiges Stück Theater im Stuttgarter Schauspiel.

Aufführungen am 22. und 28. März sowie am 3., 10 und 27. April.