Offiziell gelten bisher defekte Puffer als Grund für die Vorfälle an Gleis 10 in Stuttgart. Ein Student bezweifelt das und forscht jetzt auf eigene Faust nach den Gründen für die entgleisten Züge.

Stuttgart - Aufgefallen ist Heiko Frischmann an dem 53-seitigen Untersuchungsbericht mit dem Aktenzeichen 60 – 60uu2012-09/200205 zuerst das Bild auf Seite 47: Die Fotografie ist nicht maßstäblich, also in gleichem Maß in der Höhe und in der Breite, vergrößert worden, sondern mehr in der Breite. Das war der Auslöser, warum sich der Chemiestudent, der sich auch mit Akribie und wissenschaftlichen Methoden Bahnthemen nähert, den Bericht genauer angeschaut hat, in dem die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes die beiden Zugentgleisungen im Juli und September 2012 auf Gleis 10 im Stuttgarter Hauptbahnhof unter die Lupe nahm.

 

Die Experten führen die Unfälle auf ein Versagen der Puffer zurück, wobei zu hohe Anfahrdruckkräfte und die engen Trassen im Stuttgarter Hauptbahnhof begünstigend gewirkt hätten. Heiko Frischmann bezweifelt mittlerweile, dass der Bericht die wahren Ursachen aufführt. Das Eisenbahn-Bundesamt bleibt auf Anfrage der Stuttgarter Zeitung bei seiner Darstellung.

Acht Personen werden verletzt, als der Zug entgleist

Es ist jeweils kurz nach 11.30 Uhr, als am 24. Juli und am 29. September vor zwei Jahren der IC 2312 vom Gleis zehn des Stuttgarter Hauptbahnhofs abfährt – und nach kurzer Strecke bei Weiche 227 aus den Gleisen springt. An beiden Tagen kommt es zu erheblichen Beschädigungen: 370 000 Euro im Juli, 1,74 Millionen Euro im September, als auch acht Personen verletzt werden. Kurze Zeit später entgleist an der Stelle auch ein Testzug. Über Monate hinweg ist das Gleis 10 gesperrt, was zu erheblichen Störungen des Regional- und S-Bahn-Verkehrs führt. Brisanz erhalten die Unfälle noch dadurch, dass die Ausfahrt von Gleis 10 im Rahmen des umstrittenen Projekts Stuttgart 21 umgebaut worden war und die neue Trassierung wegen des mittlerweile verlegten Querbahnsteigs mit wenig Platz auskommen musste – all das macht die Vorgänge zu einem alles andere als alltäglichen Fall.

Am 15. April dieses Jahres stellt das Eisenbahn-Bundesamt den Untersuchungsbericht seiner Experten vor. „Primärursächlich“ seien defekte Puffer, heißt es. Sie hätten zu einer sogenannten Überpufferung geführt, also dazu, dass die Puffer nicht mehr aufeinanderzuliegen kommen (wie es der Normalfall ist, um einen konstanten Abstand der Waggons zu garantieren), sondern seitlich so stark verschoben werden, dass sie sich verhaken, was Entgleisungen wie im Stuttgarter Fall zur Folge haben kann. Dieses Phänomen sei bei geschobenen Zügen, wie es die beiden entgleisten IC 2312 waren, wahrscheinlicher.

Frischmann hegt Zweifel an den Unfall-Ursachen

Die Experten der zum Eisenbahn-Bundesamt gehörenden Untersuchungsstelle stellten auch fest, dass die laut Bauvorschrift notwendigen sechs Meter Zwischengerade, durch welche die 190-Meter-Radius-Gegenbögen verbunden sind, in Stuttgart vorschriftsmäßig geplant und eingebaut wurden. Allerdings ist in dem Bericht auch von der „maximalen Ausnutzung möglicher Trassierungselemente“ die Rede, die durch das interne Regelwerk legitimiert, aber „offensichtlich insbesondere wirtschaftlichen Erwägungen geschuldet“ sei. Obwohl also offenbar alle Vorschriften erfüllt sind, ließ das EBA in seinem Bericht anklingen, dass man sich künftig mit Blick auf die Sicherheit an anderen europäischen Normungen zum Gleisbau orientieren solle, etwa eine mindestens sieben Meter lange Zwischengerade. Damit und mit generell größeren Radien „wäre eine maßgebliche Beruhigung der Fahrzeuge beim Durchfahren des S-Bogens zu erzielen gewesen“.

Schon diese Erwähnungen lassen Frischmanns Zweifel wachsen, ob eine Überpufferung wirklich die Hauptursache für den Unfall war. Der Student aus Hochheim bei Mainz wirft dem Eisenbahn-Bundesamt vor, das Dokument nicht mit der nötigen Sorgfalt erstellt zu haben. Aufgrund von Berechnungen kommt er zu dem Schluss, dass „es schon aus geometrischen Gründen undenkbar ist, dass die fraglichen Züge überpuffert sind“. So könnten sich die etwa 60 Zentimeter breiten Puffer im Gegenbogen zwar um rund 40 Zentimeter gegeneinander verschieben, dies reiche aber nicht aus, damit die Puffer aneinander vorbeigleiten und dann überpuffern.

Das Eisenbahnbundesamt verweist auf den Unfallbericht

Für Frischmann ist auch ein Bild der Pufferauslenkung auf Seite 47 des Berichts kein Beweis für die Überpufferung. Zwar illustriere das Foto auf den ersten Blick die These, doch die Vergrößerung sei nicht maßstäblich. „Dadurch ergibt sich ein falscher optischer Eindruck“, sagt Frischmann. Er verweist zudem auf eine Prüfformel aus einem Fachbuch, die die ausreichende Überdeckung der Puffer nach dem Radius der Kurve prüft – und ebenfalls nachweist. Auch die im Bericht genannten (zu) großen Druckkräfte bei beiden Unfällen sprechen nach seiner Ansicht gegen die genannte Ursache. „Wenn die Puffer bei großen Druckkräften gestaucht werden, haben die Drehgestelle der Wagen kleinere Abstände und damit kleinere Versatzwinkel. Das spricht eklatant gegen die Zusammenhänge, die das EBA sieht“, sagt er.

Heiko Frischmann glaubt deshalb an eine andere Ursache. Für ihn könnte die direkte Anordnung einer doppelten Kreuzungsweiche nach dem Bogen das Problem sein. Die Weichenzunge sei so angeordnet, dass sie das erste gerade Schienenstück nach dem 190er-Bogen, also einer Kurve, sei. „Eine Weichenzunge kann aber nur rund ein Drittel der seitlichen Kräfte eines normalen Schienenprofils aufnehmen“, sagt Frischmann, deshalb sei es lohnend, dieser Spur nachzugehen. Im Gegenzug zu den oft als „besonders eng“ bezeichneten 190er-Bögen in Stuttgart, die aber deutschlandweit tausendfach verbaut seien, ohne dass es zu vergleichbaren Zwischenfällen gekommen sei, sei die Bauanordnung der Weichenzunge nach dem Bogenende gänzlich unerprobt, so Frischmann.

Das Eisenbahn-Bundesamt erklärte auf Anfrage der Stuttgarter Zeitung zu den Thesen Frischmanns, dass sich „alle offenen Fragen anhand des Unfallberichts klären lassen, der auf alle uns vorliegenden Fakten eingeht und sämtliche Schlussfolgerunge enthält“. Insofern bleibe das EBA bei seiner Darstellung.