Der Himalaja verlangt nicht nur Bergsteigern einiges ab, auch Streifengänse müssen ihn auf ihrem Flug überwinden. Mittels implantierter Logger haben Forscher nun herausgefunden, dass die Vögel komplizierte Routen wählen, um Höhe zu meiden und Energie zu sparen.

Stuttgart - Für Streifengänse steht das Himalaja-Hochgebirge wie eine scheinbar unüberwindliche Wand im Weg, wenn sie von ihren Winterquartieren in Indien zu den Brutplätzen in der Mongolei fliegen. Dort ragen schließlich etliche vereiste Gipfel mehr als 8000 Meter über den Meeresspiegel in den Himmel. In solchen Höhen wird jeder Schritt zur Qual, wissen Bergsteiger. Fliegen ist noch viel anstrengender. Und doch meistern die Vögel zweimal im Jahr diese Hürde. „Früher nahmen einige Biologen an, Streifengänse würden sich von den starken Monsunwinden bis in 7000 oder 8000 Metern tragen lassen“, erinnert sich Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und der Universität in Konstanz. In diesen Höhen würden die Vögel dann ohne großen Energieaufwand weiterfliegen und so über die Berge kommen. Als Charles Bishop von der Bangor University und seine Kollegen den Flug der Streifengänse genauer untersuchten, mussten sie diese Theorie zu den Akten legen: Tatsächlich fliegen die Vögel einen Kurs, der einer Berg-und-Tal-Fahrt ähnelt. Dabei erreichen sie nur selten Höhen von mehr als 6000 Metern, berichten die Forscher im Fachjournal „Science“.

 

„Ähnlich wie Autofahrer auf dem Weg von Mitteleuropa nach Italien ja nicht über die höchsten Alpengipfel fahren, suchen sich auch die Vögel eine möglichst einfache Route über Pässe zwischen den Bergen“, erklärt Martin Wikelski. Dieses Verhalten hatte der Spezialist für wandernde Tierarten bereits früher beobachtet. Weshalb aber fliegen die Streifengänse nicht einfach wie ein Verkehrsflugzeug in großer Höhe über die Berge? Und wie anstrengend ist der Vogelflug überhaupt?

Ein Logger misst Herzschlag

Um das herauszubekommen, fingen die Forscher Anfang Juli 2011 auf einem See in der Mongolei 30 Streifengänse. In dieser Zeit wechseln die Vögel ihre Federn und können nicht fliegen. Ein Tierarzt implantierte den betäubten Tieren ein 32 Gramm schweres Gerät unter die Haut, das in kurzen Zeitabständen Luftdruck, Körpertemperatur und Herzschlag der Gänse aufzeichnet. Dieser „Logger“ misst auch Beschleunigungen, aus denen die Forscher den Vogelflug rekonstruieren können.

Insgesamt werteten die Forscher aus den Geräten von 17 zurückgekehrten Vögeln schließlich 391 Flugstunden aus. Nach diesen Daten waren die Vögel keineswegs in der Höhe der Berggipfel, sondern durchschnittlich nur in 4707 Meter Flughöhe unterwegs. 90 Prozent der Zeit flogen sie in weniger als 5600 Metern. Die größte aufgezeichnete Höhe lag mit 6443 Metern zwar weit unter dem Niveau der höchsten Gipfel, sollte aber reichen, um Hochgebirgspässe zu überfliegen.

Ein Blick auf den Energieverbrauch klärt, weshalb die Vögel nicht höher fliegen. Vergleichswerte dazu liefern Streifengänse, die in Labor-Experimenten im Windkanal fliegen. Dort können Forscher wichtige Faktoren wie den eingeatmeten und verbrauchten Sauerstoff, Herzschlag, Flügelbewegungen und Beschleunigung in verschiedene Richtungen messen. Und sie finden prompt Zusammenhänge zwischen diesen Daten: Je höher die Vögel fliegen, umso dünner wird die Luft. Um sich in einer größeren Höhe zu halten, müssen die Streifengänse also öfter mit den Flügeln schlagen. Fliegen die Streifengänse in tieferen Regionen unterhalb von 2300 Metern, bewegen sie in jeder Sekunde 3,94-mal die Flügel auf und ab, in jeder Minute schlägt ihr Herz 300-mal. Bewegen sie sich dagegen in 4800 Metern durch die Luft, liegt der Flügelschlag schon bei 4,35-mal pro Sekunde und die Herzfrequenz steigt auf 364 Schläge je Minute. Schon in 5000 Metern ist der Energieaufwand für jeden Flugkilometer daher 1,7-mal höher als auf Meereshöhe, rechnen die Forscher aus. Wären die Vögel dagegen in der viel dünneren Luft in 8000 Meter Höhe unterwegs, würde ihr Herz mit etwa 460 Schlägen pro Minute rasen. Zudem ist dort oben der Sauerstoff knapp, die Vögel erreichen rasch ihre Leistungsgrenze. Kein Wunder, wenn sie den Aufstieg in solche Höhen vermeiden.

Stattdessen fliegen sie auf der Route über das Hochland durchschnittlich 62 Meter über dem Boden. In den Bergen bedeutet das ein ständiges Auf und Ab, der Flug der Streifengänse ähnelt einer Berg-und-Tal-Fahrt. Quer über das Hochland von Tibet brachte es einer der Vögel so auf insgesamt 6340 Meter Steigflug und 4950 Meter Sinkflug. Am Ende hatte die Gans mit ihrem dauernden Auf und Ab also 1390 Meter Höhe gewonnen. Wäre sie stattdessen ohne Rücksicht auf den Abstand zum Boden ständig leicht aufwärts geflogen, um in der gleichen Zeit die gleiche Höhe zu gewinnen, hätte sie acht Prozent mehr Energie gebraucht, kalkulieren die Forscher.

Gute Gründe für den Tiefflug

Einen wichtigen Energiespareffekt brachten die Daten ebenfalls ans Licht: Manchmal steigen die Streifengänse eine Zeit lang in jeder Minute 48 Meter höher, ohne dass sich ihr Herzschlag ändert. Dort müssen Aufwinde die Vögel nach oben getragen und so die Energiekosten gesenkt haben. „Genau den gleichen Effekt nutzen Drachenflieger, wenn sie nahe am Hang einen Aufwind suchen, der dort erfahrungsgemäß am sichersten zu finden ist“, erklärt Martin Wikelski. Die Gänse aber haben noch weitere gute Gründe, relativ niedrig über dem Boden zu fliegen: Dort ist nicht nur der Luftdruck ein klein wenig höher und damit der Energieverbrauch etwas niedriger, dort sind auch Gegen- und Seitenwinde seltener und schwächer, die den „Spritverbrauch“ der Gänse ebenfalls in die Höhe treiben. Obendrein können sich die Vögel so besser am Boden orientieren und in gefährlichen Situationen schneller notlanden. Es gibt für Streifengänse also einige gute Gründe für einen Tiefflug und wenig Argumente für Höhenflüge.

Gleichzeitig beginnt Martin Wikelski mit Hilfe der mit einem Logger ausgerüsteten Streifengänse eine Forschungslücke zu schließen: „Mit den so aufgezeichneten Daten können wir unter anderem bestimmen, wo und wann Aufwinde entstehen, über die Meteorologen bisher wenig wissen.“ Möglicherweise verbessern die Streifengänse also langfristig sogar die Wettervorhersage.