Vor 250 Jahren gab der Kaiser in Wien eine Fläche frei, auf der fast alle fast alles machen dürfen. Eine Hommage an den Prater.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Wien - Haltestelle Praterstern. Was sehen wir da? „Wir sehen“, schreibt der Musiker und Schriftsteller Ernst Molden, dessen Texten und Melodien man sich anvertrauen muss, wenn man von Wien mehr sehen will als nur Wien allein; „wir sehen“, schreibt Molden also, „Söhne und Töchter aller Herren Länder, die durchs schlichte Sein auf diesem Platz zu supergenuinen Wienern werden.“ Soso, denkt man da. Na, wenn das derart einfach ist, dann mal hinein ins Vergnügen. Und schon ist man im Wurstelprater (und im Grünen Prater), Wiens riesigem Vergnügungspark, doppelt so groß wie der Central Park in New York, „Teil der Stadt und doch in (fast) jeder Hinsicht außerhalb ihrer sozialen Beschränkungen“, wie der Direktor des Wien Museums, Matti Bunzl, sagt.

 

Seinesgleichen, nämlich Kulturanthropologen, nennen das Liminalität: Die sonst geltenden Regeln sind ein wenig außer Kraft gesetzt, gleich ob in der Fiktion oder in der Wirklichkeit. Das sei so in William Shakespeares Wald im „Sommernachtstraum“, im Fasching und eben auch im Prater, wo sich die Gegenwart relativ einfach überwinden lässt – im Spiegelkabinett oder im Space-Shot.

Auch Reich und Arm kamen sich näher

Wie das Toleranzpatent, die Zivilehe und die Abschaffung der Todesstrafe gehörte auch die Öffnung der ehemalig nur dem Adel zugänglichen Waldstücke zu den Glanztaten des teilweise aufgeklärten Joseph II., der sich in seiner kaiserlichen Regierungszeit von 1767-1790 bis hin zur Eliminierung des Korsetts so ziemlich um alles kümmerte, was seine Untertanen anging, die er zu glücklichen und tüchtigen Menschen erziehen wollte – allerdings innerhalb der gegebenen Klassenschranken, zumindest, was die Innere Stadt betraf, wo der Abstand zwischen Herr und Knecht peinlich eingehalten wurde.

Nicht so im Prater, wo Reich und Arm, Frauen inklusive, sich zwangsläufig nahekommen mussten: Die Kaffeehäuser und Freiluftspektakel standen allen offen. In barocker Anmutung vollzogen sich sogenannte szenische Feuerwerke, letztere für geringen Eintritt. Eine halbe Armee von Pyrotechnikern spielte dann Ferdinand Raimunds „Feenmärchen“ nach – ein Stück und ein Autor, an dem die Wiener bezeichnenderweise bis heute eine weltweit ziemlich exklusive Freude haben: Eventkultur vor deren eigentlicher Erfindung.

Überhaupt muss man sich den Prater der Frühzeit wie eine eigentümlich blühende Kreuzung aus Shopping-Mall, Zerstreuungsstraßen, Naherholungsgebiet, Dauerjahrmarkt und Reeperbahn vorstellen, spätestens nach der Weltausstellung 1873 und der anschließenden Schleifung der Stadtmauern.

Ein Ort hinter der Jetztzeit

Einen weiteren Riesenschritt Richtung (Self-) Entertainment tat der Prater mit der sogenannten Adria-Ausstellung 1913, die dem Besucher eine teilweise exakt nachgebaute venezianische Erlebniswelt vorspiegelte. Da gingen täglich 20 000 Menschen durch und wurden, technisch gesehen, sehr frühzeitig herangeführt an Neuerungen wie das Lichtspieltheater und das Riesenrad, das immer noch – und erst recht nach dem Film „Der dritte Mann“ – das Wahrzeichen des Praters ist. Ursprünglich hatte sich das Rad nur ein paar Jahre drehen sollen. Näheres regelte dann der Markt, Weiteres der Krieg. Bevor die Russen kamen, steckten die Deutschen die Buden und den ganzen anderen schönen Schein schnell noch in Brand. Außergewöhnlich schnell kam der Prater wieder auf die Beine. Was auch daran lag, dass die Menschen endlich wieder etwas anderes sehen wollten als Trümmer – auch wenn es nur Illusionswelten waren.

Gestalterisch ist der Ort seitdem immer ein bisschen hinter der Jetztzeit zurückgeblieben; bis heute eignet ihn ein sehr eigener, mürber Charme, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Vergnügungspark, anders als europäische oder amerikanische Pendants, stets frei zugänglich ist. Als 2004 ein französischer Experte einen Masterplan – meist das Ende allen Anfangs – erarbeitet hatte, in welchem den Unternehmern zu einer Renaissance des Zuckerbäckerstils von anno 1900 geraten wurde, erfuhr er schroffeste Ablehnung. Auch zentrale Vermarktung ist niemals ein Ziel der Stadt Wien gewiesen, die den Prater verwalten muss. Stattdessen sieht sie sich immer noch mit einer Menge ganz unterschiedlich strukturierter Familien konfrontiert, die im Prater teilweise bereits seit Jahrhunderten umeinanderwursteln, was man den jeweiligen Etablissements auch ansieht. Man muss sich viel Zeit nehmen, um das alles zu studieren: in seiner Grindigkeit, Gemütlichkeit und urbanen Genialität.

Und so sieht man „alte Trinker und junge Kiffer, Hippies und Schläger, Künstler und Krieger, gelassene Greise und amüsierte Kinder“, wie Ernst Molden sagt, bis heute, jeden Tag – und in der Nacht erst. Am Ende ist es nicht sonderlich erstaunlich, dass selbst ein hochrationaler Mensch wie der Wissenschaftler und Romancier Robert Musil den Prater zu den sieben Weltwundern zählte, die ein im Ausland lebender Wiener regelmäßig aufzuzählen beginne, wenn er Heimweh habe: neben Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, der blauen Donau, dem Heurigen und der Wiener Musik.