Seit 1987 ist der Bass Matthias Hölle Ensemblemitglied der Oper Stuttgart. Am Montag gibt er sein Abschiedskonzert.

Stuttgart - 196 Zentimeter – „noch“, fügt Matthias Hölle hinzu, als er durch das Foyer des Opernhauses geht, dem er seit 1987 verbunden ist. Ein Mann mit dieser stattlichen Körpergröße muss Mozarts Komtur singen, einer wie er muss sperrig sein. Ein italienischer Tenor, ein jugendlicher Liebhaber oder smarter Held hätte der Schwarzwälder nie werden können. So darf man es für eine glückliche Fügung halten, dass bei ihm Stimmfarbe und Charakter schon früh in eins gingen. Und dass der Musiklehrer, der den Vierzehnjährigen im Rottweiler Gymnasium hörte, wie er, akustisch getragen und verstärkt von den Wänden des hohen Flurs, mit seinem seit jeher tiefen Alt die Hallenarie des Sarastro aus der „Zauberflöte“ sang, flugs zu ersten Gesangsstunden an der Jugendmusikschule animierte. Schon in der Grundschule, sagt der 65-Jährige heute, habe er, geschult durch seinen gesangsbegeisterten und -begabten Vater ebenso wie durch das eigene Geigenspiel, „die tiefe dritte Stimme gegen die ganze Klasse“ singen können, und vom Stimmbruch habe er überdies kaum etwas gemerkt.

 

So begann ein erstaunlich gerader Weg hin zu einer internationalen Karriere. Nicht einmal das erste Unterrichtsjahr, in dem ihn sein Lehrer ausschließlich Vokalisen singen ließ, konnte den Jugendlichen von seiner Begeisterung abbringen, und erste Selbstzweifel waren nach einem ersten Studienbeginn an der Ludwigsburger Pädagogischen Hochschule schnell ausgeräumt. Als Matthias Hölle auch Kurse an der Stuttgarter Musikhochschule belegte, begriff er rasch, dass er das Zeug hatte, auch hier zu bestehen. Das bestätigten in der Folge auch andere. Wolfgang Gönnenwein zum Beispiel, damals Generalintendant der Staatstheater und Leiter der Ludwigsburger Schlossfestspiele: Der habe sich, erzählt Hölle, bei einem Konzert des Württembergischen Kammerchores, in dem er mitgesungen habe, neben ihn gesetzt und lauschend die Hand auf sein Ohr gehalten – „und so landete ich als gerade mal 21-Jähriger in Ludwigsburg“. Noch während seines Stuttgarter Studiums hat der Bass dort in der „Zauberflöte“ gesungen, in „Don Giovanni“, „Freischütz“ und in einem „Fidelio“, bei dem er sich vor der Vorstellung in der Friedenskirche einen der aufgestellten Garderobe-Wohnwagen mit Peter Hofmann teilte. Ähnlich gleitend vollzog sich sein zweiter Übergang vom Studium in den Beruf: Vom Unterricht an der Kölner Musikhochschule (bei Josef Metternich) rutschte der Sänger nahtlos hinein in sein erstes Festengagement.

Wolfgang Gönnenwein warb Hölle zwei Mal ab

Elf Jahre ist Matthias Hölle an der Kölner Oper geblieben. Dann kam nochmals Wolfgang Gönnenwein. Setzte sich in einem der Sommer, die der Sänger seit 1981 (erst als Nachtwächter in den „Meistersingern“, später als zweiter Gralsritter, Gurnemanz und Titurel in „Parsifal“, als Marke in „Tristan“, Daland im „Fliegenden Holländer“, Fasolt in „Rheingold“ und Hunding in „Die Walküre“) in Bayreuth verbrachte, neben diesen auf eine Parkbank beim Festspielhaus und warb für Stuttgart. Hölles Einwand, dass er, wie es die damalige Rechtslage für Sänger-Engagements von mehr als 15 Spielzeiten vorsah, demnächst in Köln unkündbar sei, in Stuttgart aber ganz von vorne beginnen müsse, tat Gönnenwein ab: „Pah, das ist für Sie doch kein Problem!“

War es (unter Klaus Zeheleins Intendanz) dann doch, aber das ist eine andere Geschichte – die mit dem Kompromiss endete, dass der Bass seinen Vertrag auf zehn Abende pro Saison reduzierte. Auf diesem Mindestmaß bestand der Sänger; diese Sicherheit sei ihm, erklärt er, immer wichtig gewesen, auch mit Blick auf seine Rente, denn „wenn man nur frei arbeitet, kommt für das Alter nichts zusammen.“ Da die Bezahlung von Probenzeiten bei Gast-Engagements obendrein schlechter geworden sei, könne er den Sängerberuf heute niemandem mehr ernsthaft empfehlen: „In ein paar Jahren“, befürchtet Hölle, „werden das nur noch singende Hausfrauen machen können, die anderweitig abgesichert sind.“

„Manche Intendanten mögen Leute wie mich nicht“

In Stuttgart hat Matthias Hölle vier Intendanten erlebt, war aber wegen seiner nur spärlichen Beschäftigung „nur wenig eingebunden in das Ensemble“. Dass er nie auch einmal als lauschender Gast im Zuschauerraum gesessen hat, um seine Kollegen zu hören, führt er auf das offenbar stark traumatisierende Erlebnis seines allerersten Opernbesuchs zurück, mit dem ihn ein wohlmeinenden Rottweiler Apotheker beglücken wollte: Pfitzners „Palestrina“ war (nicht nur) für den 13-Jährigen unverdaulich. Dennoch weiß Hölle zahlreiche wunderbare Geschichten aus alten Tagen zu berichten, darunter etliche lustige. Und etliche, die belegen, was er immer wieder feststellt: „Manche Intendanten mögen Leute wie mich nicht.“ „Ich muss wissen, warum ich was tue“: Das nämlich ist es, was der Sänger immer wieder einfordert – und was er von einigen „Regisseuren, die sich nur ihre eigene Welt zurechtspinnen“, eben nicht bekommen hat. Dann gab es Streit, beispielsweise mit Axel Manthey, dem Hölle bei Proben zu Monteverdis „Ulisse“ lautstark ein „Sie sind ein Korinthenkacker!“ an den Kopf warf. Der Satz geisterte jahrelang durch die Flure des Opernhauses.

Denkwürdige Begegnung mit Karlheinz Stockhausen

Für die wohl denkwürdigste Geschichte sorgte aber der wohl denkwürdigste Komponist des 20. Jahrhunderts: Nachdem Matthias Hölle jahrelang mit Karlheinz Stockhausen (unter anderem bei den ersten „Licht“-Uraufführungen in Mailand) zusammengearbeitet hatte, musste er 1983 für eine geplante Aufführung mit dem Kölner Meister wegen Bayreuther „Ring“-Proben mit Georg Solti absagen. Stockhausen, hoch erregt, schrieb Wolfgang Wagner einen (wie immer: handschriftlichen) Brief mit der Bitte, den Sänger zu ermahnen, auf dass dieser zurückfinde „auf den richtigen und einzigen Weg der Ehe mit meinem Werk“.

Hölle ist bei seinem Entschluss und in Bayreuth geblieben. Von dort hat er später Abschied genommen. In Stuttgart singt er zurzeit noch den Komtur, 2018 wird er als Gast bei der Wiederaufnahme des „Parsifal“ nochmals den Titurel geben. An diesem Montag aber sagt er der Stuttgarter Oper offiziell Adieu: mit einer Rückkehr zu seinen Wurzeln. Zwei Sätze Schuberts für Klaviertrio finden sich da zwischen Liedern von Beethoven, Schubert und Löwe, „und eigentlich“, sagt der Bass, „sollte ich mit dieser Musik aufhören. Nur dasitzen, lauschen, nicht mehr singen. Es ist alles gesagt.“