Michèle Morgan war eine der ganz großen französischen Kinoschauspielerinnen. In Deutschland ist die am 20. Dezember im Alter von 96 Jahren Gestorbene zu Unrecht vergessen. Das wäre sicher anders, hätte sie, wie ursprünglich vorgesehen, die Hauptrolle in „Casablanca“ bekommen.

Stuttgart - Sie war eine Leinwandgöttin Frankreichs, aber den ganz großen, weltweiten Nachruhm hat Michèle Morgan verpasst. Und wie sie darüber hinwegging, dass ihr andere die Chance auf eine der legendärsten Rollen der Filmgeschichte vermasselt hatten, ist ein Musterbeispiel für Haltung. Die 1920 als Simone Renée Roussel Geborene war als Siebzehnjährige von Regisseur Marc Allégret entdeckt worden. Ihre Auftritte in dessen „Gribouille“ (1937), in Marcel Carnés „Hafen im Nebel“ (1938) und in Jean Grémillons „Der Orkan“ machten sie zum Star.

 

Ihr melancholischer Blick, die Mischung aus schmerzlicher Lebenserfahrung und der erkennbaren Bereitschaft, gerade deshalb – Hoffnung muss sein – wieder vertrauen zu wollen, sich also wieder verführen, täuschen und verletzen zu lassen, schien der ganzen Bewegung des Poetischen Realismus im französischen Kino den Namen gegeben zu haben. Vor den Nazis floh Morgan nach Hollywood, wo sie untre anderem neben Humphrey Bogart in „Passage to Marseille“ spielte – aber die größte Niederlage ihrer Karriere erlitt. Das Studio Warner Brothers wollte sie für die weibliche Hauptrolle in „Casablanca“ ausleihen, aber das Studio RKO, bei dem sie unter Vertrag stand, verlangte so viel Geld, dass Warner letztlich Ingrid Bergman heuerte. Morgan ließ sich dazu keine Klagen über verschüttete Milch entlocken, sondern verwarf ihre Hollywood-Zeit nonchalant in Bausch und Bogen: „Meine Filme dort“, sagte sie gerne, „waren doch alle Stinker.“

Chance zur Neuentdeckung

Sie konnte sich das leisten. Zurück in Frankreich, gewann sie mit ihrer Darstellung einer blinden jungen Frau, deren Wiedererlangen der Sehkraft sich nicht als Segen erweist, in Jean Delannoys „Und es ward Licht“ (1946) gleich den Preis als beste Darstellerin beim allerersten Festival von Cannes. Danach spielte sie in Frankreich noch viele große Rollen in den Fünfzigern und Sechzigern, aber anders als Simone Signoret und später Catherine Deneuve und die künstlerisch viel leichtgewichtigere Brigitte Bardot blieb Michèle Morgan, die am 20. Dezember im Alter von 96 Jahren gestorben ist, dem deutschen Publikum seltsamerweise kaum im Gedächtnis. Das kann man aber positiv sehen: Es schenkt denen, die sich etwa Marcel Carnés „Hafen im Nebel“ (Arthaus CD/Blu-ray) ansieht, das Erlebnis einer schönen Neuentdeckung.