Der große Musik-, Literatur- und Theaterkenner Joachim Kaiser ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Er war ein Schwärmer. Ein Sowohl-als-auch war ihm immer lieber als ein Entweder-Oder. Der Gewinner war der Leser oder Zuhörer.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - Neben Joachim Kaiser sitzen zu kommen, zum Beispiel im Bayreuther Festspielhaus, wo es eh enger als eng zugeht, konnte sich zu einer Prüfung auswachsen. Während die Musik sich gerade mal halbwegs drin befand im ersten Aufzug nämlich, hatte er meist schon mehrmals mit den Handflächen die Kniepartie seiner Anzughose einer Belastungsprobe durch fortgesetztes Scheuern unterzogen, oft geseufzt, zweimal den Stift fallen lassen, mit dem er ansonsten großflächig nur für ihn lesbare Hieroglyphen auf ein Stück Papier warf, und, leise, aber hörbar, Töne von sich gegeben, meist kleine Klage- und Kritiklaute in nahezu perfekt Loriotscher Manier (Vicco von Bülow und Kaiser waren befreundet, man wusste mitunter nicht ganz, wer was von wem übernommen hatte): „Nein!“, „Mhmmm“, „Tjoo...“, „Jaja“ und „Ah-ja“.

 

Kaiser arbeitete in solchen Momenten innerlich bereits heftig an der Grundierung seines Rezensionsgemäldes, das er am nächsten Morgen gedanklich vollenden würde, im Übrigen im Gehen. Dabei diktierte er seine Erkenntnisse über den Abend einer Sekretärin, die im Laufe von Jahrzehnten an alle seine Eigenheiten, von denen er einige hatte, gewöhnt war.

Rezensionen, Sekretärinnen: aussterbende Gattungen, ausgestorbene Berufsbezeichnungen.

Auch insofern stellte Joachim Kaiser, Journalist und Professor, vielleicht wirklich jenen „letzten Mohikaner“ dar, als der er sich in langen Gesprächen mit seiner Tochter Henriette für das gleichnamige Buch zu seinem achtzigsten Geburtstag im Jahr 2008 bezeichnet hatte: ein Arzt- und Bürgerssohn aus Ostpreußen, mehr oder minder am Klavier und allemal musisch groß geworden, um hernach ein Leben zu absolvieren, das, wie er selber eingestand, „in einem beinahe gespenstischen Maß aus dem Zusammentreffen mit großen Kunstwerken bestanden“ hat.

Er meinte, dass man sehr wohl verstehen könne, was Adorno meine.

Im Nachkriegsdeutschland reichte dem Studenten der Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie für die Begründung einer Karriere ein einziger Artikel in den „Frankfurter Heften“, deren Redakteur, Walter Maria Guggenheimer, den jungen Kaiser eingeladen hatte, über Theodor W. Adornos „Philosophie der neuen Musik“ zu schreiben, weil Kaiser meinte, dass man sehr wohl verstehen könne, was Adorno meine.

Kaisers Aufsatz jedenfalls trug zur Erhellung von dessen Symptomenlehre einiges bei. Vor allem jedoch promovierte er den Autor im Nu – und lange bevor er das an der Universität selber tun konnte (hernach über Franz Grillparzers dramatischen Stil).

Die ordentliche Promotion dauerte auch deshalb, weil Kaiser nach dem Adorno-Beitrag beim Hessischen Rundfunk so gut wie alle Mikrofone offen standen, sobald es um Kultur ging, die sich damals in der Zeitung noch Feuilleton nannte: und das Feuilleton seinerzeit und Leute wie Kaiser waren gewillt, vor nichts noch so Versponnenem, ja womöglich Inkommensurablem Halt zu machen. Schließlich ging Kaiser zur „Süddeutschen Zeitung“ als Leitender Redakteur, der er geblieben ist, fast 60 Jahre lang. Unglaublich? Unglaublich.

Kaiser kam immer auf den Kern der Dinge

An dieser Stelle wäre jetzt ein Kaiserscher Schreib- und Sprechtrick fällig: Mittendrin Fragen stellen. Fragen wird man immer dürfen. Nach dem Motto verfuhr er und fragte einfach mal so: Wie macht Artur Rubinstein dies und das? Oder: Können wir Friedrich Schiller in diesem Moment eigentlich über den Weg trauen? Oder: Haben sich Tristan und Isolde wirklich nicht geliebt?

Das klang manchmal naiv, war es aber ganz und gar nicht. Was also machte Joachim Kaiser zur Instanz - und zwar in gleich mehreren Sparten (Musik, Literatur und Sprechtheater)? Zur Beantwortung müsste man eigentlich seine Stimme hören, dieses schwebende, immer leicht singende, silbrige ostpreußische Organ, das man, einmal am Radio gehört, nicht mehr aus dem Kopf bekommen konnte, auch beim Lesen nicht.

Und dann müsste man ein kleines Erklärungsmodell zitieren, zum Beispiel die Kaisersche Überlegung, warum in Mozarts Klaviersonate a-Moll, KV 310, im depresssiv kreisenden Presto-Finale, diese „seltsam leere“ (Kaiser) A-Dur-Melodie eingefügt ist. Kaiser deutet sie biografisch. Mozart ist, während er komponiert, allein in Paris, mit dem Tod der Mutter konfrontiert („Sie ging aus, wie eine Kerze ausgeht“; schreibt er). Keine Mutter, kein Melos. Es klingt einfach, aber man muss drauf kommen. Und Kaiser kam drauf, immer wieder: auf den Kern der Dinge.

Seine Stärke war die Tiefe

Gleichwohl wäre es ein Fehler, ihn als genialen Vereinfacher zu schildern. Dazu war er viel zu umfassend gebildet und zu skrupulös. Zwar konnte er einem großen Publikum (der ausverkaufte Carl-Orff-Saal in München war die Regel, wenn er sich durch Beethovens Klaviersonaten assoziierte) immer gedanklich auf die Sprünge helfen, wie auch in seiner SZ-Video-Kolumne „Sprechen wir über Musik“, wo er nicht davor zurück schreckte, Britney Spears zu rezensieren. Seine Stärke aber war die Tiefe.

Einmal eingetaucht ins ästhetische Meer, sein Element, fing er an zu differenzieren. Er war kein Polemiker (wie Marcel Reich-Ranicki oder Gerhard Stadelmaier, die gerne kein Gras mehr unter sich wachsen ließen, nachdem sie einen Standpunkt eingenommen hatten). Er war ein Schwärmer. Ein Sowohl-als-auch war ihm immer lieber als ein Entweder-Oder. Der Gewinner war der Leser oder Zuhörer.

Kaiser kujonierte ihn nicht mit Kritik. Er ließ die seine vielmehr einfließen in eine Erzählung. Und schon war man weniger mit dem Wertenden als mit dem Werk beschäftigt. Auch seine Studenten an der Musikhochschule Stuttgart, wo er von 1977 an zwanzig Jahre lehrte, werden das gerne und dankbar bestätigen. Natürlich wird verwöhnt, wer von Anfang an (Münchner Kammerspiele-Aufführungen von Fritz Kortner) bis zum Ende seiner Laufbahn nur mit den so genannten Großen der Branchen zu tun hat: mit Leonard Bernstein (der, ohne Schmu, einigen Wert auf Kaisers Urteil legte), Friedrich Gulda, Hans-Werner Richter von der Gruppe 47 etc. Wer nennt die Namen?

Kaiser liebte die Breitenwirkung

Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs nutzte Kaiser seine Bekanntheit, um auch via „Bunte“ den Klassik-Kosmos zu durchstreifen. Er mochte das Geld (darin ganz Beethovens Rocco in „Fidelio“: „Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht recht glücklich sein...“), und er liebte die Breitenwirkung.

„Große Pianisten in unserer Zeit“, „Leben mit Wagner“ und „Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten“ gehören zu den Kaiser-Büchern, die man immer wieder aus dem Regal nimmt, weil der Ton stets ein menschenfreundlicher ist und die Haltung nie eine oberlehrerhafte: hier wirbt jemand um Verständnis. Und interessiert blieb Kaiser stets. Als Christoph Schlingensief in Bayreuth „Parsifal“ inszenierte, war das dem Kritiker allemal ein langes Gespräch wert, während dessen sich beide ganz ordentlich auf den Zahn fühlten. Bald danach allerdings zog sich Kaiser, mittlerweile über achtzig und gehandicapt durch Hörgeräte, aus der Öffentlichkeit zurück. Einen nicht mehr satisfaktionsfähigen Kritiker wollte er sich und allen anderen ersparen. Mit seinem Tod nun – im Alter von 88 Jahren ist Kaiser in seiner Wahlheimat München gestorben – endet auch, wenn man so will, ein Zeitalter.

Nicht, dass die Menschen partout dümmer geworden wären in der Kulturszene. Sie nehmen die alten und neuen Gegenstände ihrer Beschäftigung nur oft nicht mehr so wichtig wie Joachim Kaiser das tat. Er wird also nicht nur fehlen. Joachim Kaiser hinterlässt – mindestens auf der Ebene der Rezeption – eine große Lücke.