Götz George war einer der Größten unter den deutschen Schauspielern. Sensibel war er auch. Und am Ende ging es bei ihm um die großen Fragen des Lebens.

Berlin - Anfang der neunziger Jahre ist Götz George ein letztes Mal richtig auf Theatertournee. In Anton Tschechows gleichnamigem Stück gibt er den Dorflehrer Platonow: halb Hamlet, halb Don Juan. Als begnadeter Unterhalter lacht er sich buchstäblich vier Frauen an, die er dann einzeln immer wieder hinhalten muss. Platonow sei, sagt der junge Arzt Trilezki, „ein Hundesohn“. Und ergänzt: „Hundesöhne sind unverwüstlich.“ Die Szene spielt in der russischen Provinz, wo die neue Zeit noch nicht angebrochen und die alte Zeit noch nicht zu Ende gegangen ist. Das Leben findet in einem Zwischenraum statt. Alles könnte explodieren, und doch bleibt es meistens still. Platonow ist also auch so etwas wie eine Fleisch gewordene Zeitbombe.

 

Blaue Augen und eine Menge Druck im Körper

Solche Charaktere, deren Unstetigkeit und Flackrigheit er liebte, erspielte sich Götz George mit ungeheurer Präzision, und noch im vermeintlichen Stillstand toste es weiter in ihm, denn George hatte Augen, durch deren Iriden ein fast unwirklich blaues Farbenmeer floss. Damit bannte er die halbe Szene. Der Rest des Körpers baute derweil Druck auf, und um sich von dieser Spannung zu erlösen, gab George seinen Extremitäten reichlich zu tun: Kein Schauspieler seiner Generation (Jahrgang 1938) ist mehr durch die Gegend geflogen, gehetzt, gerannt, ja geschossen als er, und in den Pausen dazwischen wurde neue Kraft generiert, schließlich hatten seine Charaktere immer Ziele: morden, Morde verhindern, rauben, retten. Und so fort. Wenn sie nicht zu Zeitbomben wurden, mussten sie als Gegentypus ebensolche entschärfen. Auch das konnte George: dagegenhalten.

Es war ihm als Kind nichts anderes übrig geblieben, als den Widerstand zu proben, denn als Junge, der von seiner Mutter (der Schauspielerin Berta Drews) Putzi gerufen und von seinem Vater (dem Schauspieler Heinrich George) regelmäßig mit der Reitpeitsche durchgeprügelt wurde, war er gleichzeitig ein Vergötterter und ein früh Getriebener. Gegenüber seinem einzigen Biografen, Torsten Körner (und für das Buch: „Mit dem Leben gespielt“), hat George, bevor er siebzig wurde, ein paar Szenen aus der Kindheit kommentiert. Der Vater, sagt er, habe „instinktiv“ gehandelt und daher „das Kind gelehrt, an seinen Instinkten festzuhalten“, was einer mindestens gewagten Eigenanalyse gleichkommt.

Den Vater wird er nie mehr los

Als Heinrich George, ehemals proletarischer Held in Erwin Piscators Theater, dann aber auch Protagonist in Veit Harlans antisemitischen Filmen („Jud Süß“) und Durchhaltestreifen („Kolberg“), Ende 1946 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft stirbt, ist der Sohn jedenfalls erst mal froh, dass er „keine Schläge mehr fürchten muss“. Gleichwohl wird er den Vater, dessen Profession er selbstverständlich ergreift, niemals mehr loswerden. Gegen Heinrich Georges Massigkeit und natürliche Präsenz setzt Götz George wie ein Gegenwicht seinen Körper als Kraftzentrum ein: Bis zum Schluss braucht er für seine Rollen nie ein Double. George ist immer George, und wenn er sich selbst im Weg steht, dann richtig.

Nicht mehr genuin Kind des Krieges, aber naturgemäß auch nicht verschont von seinen Auswirkungen, gerät der Berufsanfänger George in die nächste Zwischenphase. Während er nämlich noch bei Heinz Hilpert in Göttingen lernt (der mit seiner Musikalität und seinem Witz aus der Welt von gestern kommt), hat das Theater seine erste richtige Legitimationskrise. George kennt da bereits die andere Seite, er hat früh im Film debütiert (1953 in „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“), wo bereits anhand der Besetzungsliste deutlich wird, dass dort, wesentlich früher als auf der Bühne, etwas zu Ende geht. Es spielen noch einmal: Willy Fritsch, Hertha Feiler und Magda Schneider. Gleichzeitig debütieren: Romy Schneider und Götz George. Fürs Erste jedoch bleibt George in der seichten, romantisierend-abenteuerlichen Filmwelt hängen, zwischen dem „Schatz im Silbersee“, „Winnetou und das Halbblut Apanatschi“ und dem „Todeskuss des Dr. Fu Man Chu“. Seine Fertigkeiten entwickeln sich gewissermaßen im Off. Anders als bei Karl-Heinz Böhm, dessen Herkunft und Karriere anfangs ähnlich gelagert sind (der Übervater ein anpasserischer und herrischer Dirigent, die Rollen so lala), wird nichts aus einem Treffen mit Rainer Werner Fassbinder, dessen Monomanie und Monstrosität George aus dem Weg geht. Zu deutlich scheint wieder der Vater auf.

Und dann kam Schimanski – der Wandeinreißer

Kooperationen mit den Theaterregisseuren Hans-Günther Heyme und dem peniblen Realistiker Rudolf Noelte (George ist dessen Danton bei den Salzburger Festspielen, Anfang der Siebziger) scheitern. Bis George mit einer Figur sowohl einen Zeitraum überspringt, wie er hernach eine ganze Fernsehfilmära damit prägt. Sie heißt Horst Schimanski und stammt aus Duisburg-Homberg.

Als „Tatort“-Kommissar folgt George 1981 dem Essener Heinz Haferkamp, gespielt von Hansjörg Felmy. Es gibt noch Zechen, die Fortuna heißen, auch wenn das Glück nicht wirklich mehr im Ruhrgebiet wohnt. Haferkamp rauchte Roth-Händle und hörte abends Miles Davis. Er musste nicht durch Wände. Er arbeitete mit dem Kopf. Schimanski nun ist das Gegenteil. Er muss die Wände sogar einreißen, denn er lebt vom Instinkt und von einem grandiosen Gerechtigkeitssinn. Verkatert und in Unterhose, zwei Eier im Glas saufend (roh, weil alle privaten Pfannen dreckig sind), lernt man ihn kennen und folgt ihm zum Dienst, in die Kneipe, immer der paramilitärischen Sportjacke nach, schließlich sogar ins belgische Exil – und am Schluss wieder nach Duisburg: Schimanski, in dem so viel George steckt (aus Breslau stammend, weitgehend vaterlos groß geworden, professionell nur schwer zu beraten, wenn nicht taub usw.), ist, alles in allem genommen, eine Art Endjahrhundertfigur. Er tritt ins Geschehen, als der Autorenfilm stagniert, und bleibt da, bis die Wende einen wie Schimanski ein bisschen überflüssig macht (George gönnte ihm anlassgemäß eine lange Pause).

Ihm ging es um Menschlichkeit

Der Regisseur Dominik Graf, der zwei Folgen mit George dreht, rühmt nicht nur dessen Teamfähigkeit und hyperprofessionelles Auftreten, sondern sieht ihn damals als Figur seinem Vater mindestens ebenbürtig werden, wenn nicht über ihn hinausweisen. Wie hinter dem Gesicht des Patriarchen oft eine Ahnung der Ur- und Vorgeschichte Preußens zu sehen gewesen sei, habe man bei Götz George dem Verwesen des bundesrepublikanischen Westens zuschauen können. Graf macht George das größte Kompliment, das man einem wirklich kompletten Schauspieler machen kann: Es sei, sagte der Regisseur, Götz George um die „Stimmigkeit der Figur“ und um „Menschlichkeit“ gegangen. Von nun an entwickelt George seine Tugenden zu später Meisterschaft.

Anerkennung ist ihm dabei allemal sicher. Spätestens nachdem er auch im rundum grotesk-komischen Fach reüssiert hatte, 1992 in Helmut Dietls „Schtonk!“, wo er in der Persiflage auf den Flop mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern beim „Stern“ sehr überkandidelt den Sensationsreporter Hermann Willié spielt, stehen George, der auf kompliziertem Weg vom Theater übers Kino und Fernsehen wieder ins Kino gefunden hat, alle Studios offen. Und er könnte sich’s leicht machen, was aber, wie beschrieben, grundsätzlich nicht in seinem Lebensprogramm vorgesehen scheint, in dem aus der Berufung Schauspieler nie nur der Beruf wird: also Broterwerb.

Misstrauisch gegenüber den Menschen

Denn nun wendet sich George nach den Schwierigen (wie in Grafs Thriller „Die Katze“) den wirklich Gestörten zu: Er knüpfte an eine Erfahrung mit dem Regisseur Theodor Kotulla an, der ihn bereits 1978 als KZ-Kommandanten Rudolf Höß besetzt hatte, und verkörpert Serienmörder wie Fritz Haarmann (nachhaltig verstörend in Romuald Karmakars Film), Psychopathen („Solo für Klarinette“) und, wieder fürs Fernsehen, einen Alzheimer-Kranken in „Mein Vater“. Er kommt nun mit seinen Figuren nicht mehr nur ins Drunter und Drüber, sondern tatsächlich tief in sie hinein. Bis man mehr sieht, als man gewöhnlich sieht, wenn man Kunstfiguren zuschaut: nämlich Wahrheit, das Leben, sehr wenig artifiziell.

George hat dabei – längst mit seiner zweiten Frau (nach der ersten Ehe mit Loni von Friedl) hauptsächlich in der Felseneinsamkeit Sardiniens und vollends betriebsfern am Meer daheim – mentalitätsmäßig etwas in sich, was wahrscheinlich nur Freunde überwinden können: Er hegt, sehr verletzlich, ein tiefes Misstrauen, nicht zu genügen. Gerne diskutiert er fachlich (und unter Kollegen), ungern öffentlich sein Spiel. So ist er immer schon weg, wenn die Rezeption seine Spur aufnehmen will.

Am Ende geht es um Schuld und Sühne

Götz George ist bereits vor einer Woche nach kurzer, heftiger Krankheit im Alter von 77 Jahren in Hamburg gestorben, längst begraben – und insofern auf die ihm gemäße Art aus der Welt gegangen. Im Nachhinein berührt es einen seltsam, wenn man überlegt, mit welcher Akribie er bis ganz am Schluss (und nach einer großen Herzoperation) noch darauf hingearbeitet hat, eine Art von künstlerischem Testament zu hinterlassen: In „George“ spielt er vor drei Jahren endlich tatsächlich mit dem SWR-Filmemacher Joachim A. Lang das Leben seines Vaters und das Leben als Sohn durch. Viel Licht, viel Schatten, und irgendwie tritt der Sohn jetzt doch aus dem letzten Rest Dunkel heraus.

Schließlich als Epilog „Die besondere Schwere der Schuld“, ein Film von Kaspar Heidelbach, wo George, keineswegs besonders gut, einen alten Mann darstellt, der aus dem Gefängnis kommt, um noch einmal die Schuldfrage zu stellen. George humpelt durch den Film als Hundesohn und struppiger Köter, er kann höchstens noch ein paar Zeichen setzen, aber das macht er dann eben auch. Und Johnny Cash singt, mit wegsterbender Stimme, „Hurt“, vom Mann mit dem Familienstachel und der Christus-Dornenkrone, der alles vergessen will und sich an alles erinnert und der weiß, käme so ein Leben noch mal auf ihn zu: „Ich finde einen Weg !“