Lothar Späth hat das grundsolide, aber auch verhockte Baden-Württemberg an die Spitze der Länder geführt. Ob Technik oder Kultur: er war ein Antreiber, rastlos und voller Energie. Ein Nachruf.

Stuttgart - Ein Streifenwagen, der vor der Buchhandlung Osiander abgestellt war und dessen Besatzung diskret den öffentlichen Raum musterte, fiel in Tübingen des Jahres 1985 einfach auf. Die Zeit der Studentenunruhen war vorbei, der wissenschaftliche Nachwuchs bereitete sich wieder brav auf Examina und Karriere vor. Was also führte die Träger des staatlichen Gewaltmonopols zur Wilhelmstraße, auf die Promenade des schwäbischen Weltgeistes? Zwar waren Eigentumsdelikte auch in jener Zeit in nicht geringer Zahl zu beklagen; was Bücher angeht, aber eher in der Seminarbibliothek der Juristischen Fakultät, weniger bei Osiander. Und wenn doch: Musste deshalb die Polizei vor dem Eingang der Buchhandlung Posten beziehen?

 

Die Neugier verlangte nach ihrem Recht. Hinein ins Osiander’sche Reich! Im Erdgeschoss starrten still und einsam die Bücherrücken von den Regalen, doch oben regte sich Leben. Ein elektronisch verstärkter Redestrom flutete sonor und gleichmäßig die Stufen herab, welche ins Obergeschoss führten. Dort verharrte eine Zuhörerschar vor einem Büchertisch, auf dem in nennenswerter Stückzahl ein Druckerzeugnis in silbern schimmerndem Einband ausgelegt war. „Wende in die Zukunft“, lautet der Titel. Der dem Werk zuzuordnende Autor las aber nicht aus demselben vor, er extemporierte in freier wie flotter Rede seine Gedanken über die Segnungen der Technik im Allgemeinen und die Heraufkunft der Informationsgesellschaft im Besonderen.

Nutzen und Fallstricke des Fortschritts

Was nun die Segnungen anging, so hatte Lothar Späth – als solcher entpuppte sich der Autor, womit auch die schützende Präsenz der Polizei eine hinreichende Erklärung fand – ein hübsches Beispiel parat: die Autolackiererei. Autos mit einer schicken Farbe zu versehen sei eine für den Menschen stark gesundheitsbelastende Tätigkeit. Schließlich atme er bei dem Geschäft große Mengen schädlicher Chemikalien ein. Mit dem Aufkommen von Automaten, welche die Karosserie besprühten, sah der Ministerpräsident die Gefahr gebannt. Die Menschheit war einen Schritt weiter.

Doch die Pointe hielt nicht lang, denn ein seltsames Geschick hatte einen Mann aus dem nahen Reutlingen in die Lesung geführt, der kundtat, als Autolackierer beschäftigt gewesen zu sein, ehe ihn ein Sprühautomat ersetzte. Nun sei er arbeitslos. Mochte die Menschheit auch vorangeschritten sein, er war gestolpert. Der Ministerpräsident stutzte, um dann rasch zum Signieren der ausgelegten Bücher überzugehen. Was sollte er dazu auch sagen?

Liberal und gar kein Schwerblüter

Der Zukunft zugewandt, Unstimmigkeiten souverän ausblendend: die Szene sagt einiges aus über Lothar Späth, jenen Ministerpräsidenten, der sich zumindest der Generation, die ihn im Amt erlebte, als das Urbild eines baden-württembergischen Ministerpräsidenten ins Gedächtnis einbrannte. So wie ein Bundeskanzler nur sein und handeln konnte wie Helmut Schmidt (lediglich ein paar Grüne, von denen es noch nicht so viele gab, sowie linke Sozialdemokraten, von denen es noch etliche gab, sahen das damals anders), so verkörperte Späth auf der Höhe seines politischen Schaffens das Land Baden-Württemberg: schaffig, rastlos – heute hier, morgen dort, und schon wieder fort – nicht mehr so verstockt wie ehedem, liberal und lebensfreudig, knitz, mitunter oberflächlich. 1988, Späth war das schon längst in die Rolle des „flamboyanten Ersatzkanzlers“ (FAZ) hineingewachsen, erschien ein „Geo Spezial“, in dem Baden-Württemberg als ein Land gefeiert wurde, in dem sich Wirtschaftskraft, Wissenschaft und Tradition aufs Schönste vereinten. Das Titelbild schmückte ein Schwarzwaldhof mit Solaranlage auf dem Dach. Und von den Grünen gab es ein paar mehr.

Der Soziologe Ralf Dahrendorf bemerkte in der „Zeit“ zu Späths Buch „Wende in die Zukunft“ gallig, damit qualifiziere er sich vielleicht als Bundesminister für Forschung und Technologie, nicht aber für ein Wirtschaftsministerium in Bonn, und was das Amt des Bundeskanzlers angehe, so verrate es allenfalls die Absicht, „Regent einer größeren Technopole zu werden, als Stuttgart ist“. Späth hätte die Kritik egal sein können. Schließlich hatte er das Buch – wann auch, wie auch? – gar nicht selbst geschrieben. Das erledigte Manfred Zach, sein Grundsatzdenker und späterer Regierungssprecher. Zach textete für Späth, später dann schrieb er über Späth – in dem Schlüsselroman „Monrepos oder die Kälte der Macht“, in dem er das Denkmal Späth, an dessen Errichtung er so lebhaft Anteil genommen hatte, wieder zu zerstören trachtete. Aber das ist eine andere Geschichte.

Von „High Tech“ zu „High Culture“

Das Verdikt, ein Technokrat zu sein, muss Späth dennoch übel aufgestoßen sein. Sicher, er war in seiner Geisteshaltung ein Kind der 1970er Jahre: technikverliebt und getragen vom Glauben an das Machbare. Er kam aus eher bescheidenen Verhältnissen, sein Vater war Lagerhausverwalter bei der landwirtschaftlichen Genossenschaft. Wie sein Nachfolger Erwin Teufel verließ er nach der mittleren Reife das Gymnasium und schlug die Amtsinspektorenlaufbahn ein. In der Kommunalverwaltung und bei der gewerkschaftseigenen Baugesellschaft Neue Heimat arbeitete er sich nach oben. 1968 gelangte er in den Landtag, 1972 avancierte er zum Fraktionschef. Anfang 1978 übernahm er das Innenministerium, wenige Monate später setzte er sich – nach dem Rücktritt Hans Filbingers – gegen den Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel durch und wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Dreimal in Folge strich Späth bei Landtagswahlen absolute Mehrheiten ein, zuletzt 1988, da reichte es noch zur absoluten Mehrheit der Mandate. Dass die Arbeiter im Südwesten CDU wählen, hat sozialstrukturelle Gründe, ist aber auch eine Folge des Späth’schen Wirkens.

Späth war intelligent und aufgeschlossen genug, als dass er sich mit dem Image des „Machers“ oder des „Cleverles“ zufriedengegeben hätte. Der Ministerpräsident schaltete von „High Tech“ auf „High Culture“ um und setzte nach der Technikförderung, von der das Land in Form von Forschungseinrichtungen (Wissenschaftsstadt Ulm) noch heute zehrt, eine Kulturförderung in Gang, die in der Republik ihresgleichen suchte (Zentrum für Kunst und Medientechnologie, ZKM Karlsruhe, Landesmuseum für Arbeit und Technik, Mannheim, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart). Späths Ambitionen kleidete der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier in die schöne Sentenz: „Alles ist möglich, wenn ich will, dass ich es mache.“ Baden-Württemberg näherte sich dem Status des aufgeklärten Absolutismus.

Leise platzen die Luftballons

Natürlich gab es auch Kritiker, die wie der SPD-Oppositionsführer Erhard Eppler schon früh monierten, Späths „Luftballons steigen laut und platzen leise“. Späths Kulturprojekte waren auf Renommee aus und sollten nicht zuletzt dazu dienen, den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg aufzuhübschen. Den Geisteswissenschaften war die Rolle zugedacht, die Menschen in einer von der Technologie überwältigten Welt mit einer Dosis Sinnstiftung zu versorgen. In den Feuilletons wurde darob viel gelästert. Aber Späth brachte sich ins Gespräch und damit auch das Land. Vieles, von dem Späth redete, setzten erst seine Nachfolger ins Werk. Das galt für die Theaterakademie ebenso wie für die drei Großfusionen von Rundfunk (SWR), Landesbank (LBBW) und Energie (EnBW), die Erwin Teufel vollendete. Und stetig stieg die Schuldenlast des Landes. Späth brachte es fertig, Kredite aufzunehmen, deren Tilgung samt Zinsen in die ferne Zukunft verlegt wurden: die berüchtigten Zero-Bonds.

Nie mehr aber war Baden-Württemberg in der Bundespolitik so präsent wie unter Späth. Vom „Spiegel“ erst gehätschelt, dann nach dem von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler orchestrierten, letztlich aber gescheiterten Putsch gegen Kanzler Helmut Kohl auf dem Bremer CDU-Bundesparteitag fallen gelassen, galt Späth als Aspirant auf die Kanzlerschaft. Unermüdlich jettete er durch die Welt, an der Spitze von Wirtschaftsdelegationen oder auch solo. „Späth warnt China“, titelte eine Landeszeitung in jener Zeit.

Der Bruch kam mit der „Traumschiff-Affäre“, die den Regierungschef nicht ganz zufällig nach dem bundespolitischen Absturz ereilte. Späth stand als Emporkömmling da, der sich von Unternehmern aushalten ließ und sich für deren Einflüsterungen empfänglich zeigte. Konkret wurde dem Ministerpräsidenten vorgeworfen, er habe sich einen Segeltörn von dem seinerzeitigen Vorstandschef der Firma SEL, Helmut Lohr, und von weiteren Unternehmern bezahlen lassen. Die Vorwürfe häuften sich. Sein Votum für eine schnelle Einführung der Katalysator-Technik, die er zunächst gut fand, habe er nach einem Kanada-Trip mit dem Mercedes-Gewaltigen Werner Niefer abgeschwächt. „Der Späth“, beteuerte Späth bis zum Ende, „lässt sich nicht kaufen.“ Im Januar 1991 trat er zurück. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags konnte oder wollte mit CDU-Mehrheit keine persönliche Schuld feststellen, die Staatsanwaltschaft stellte ein Ermittlungsverfahren ein.

Die zweite Karriere

Späth gönnte sich keine Ruhe. Ruhe war das Letzte, was er ertragen konnte. So begann er eine zweite Karriere, diesmal in der Wirtschaft. Als Chef der Jenoptik in Jena entließ er mit den Milliarden der Treuhand zunächst fast 16 000 Beschäftigte, erfand aber das Unternehmen quasi neu. 2003 legte er den Vorstandsvorsitz nieder und stieg bei der US-Investmentbank Merrill Lynch ein. Auch bei seinem Tun in der Wirtschaft lebte Späth von seinem Netzwerk. Kaum ein Politiker in Deutschland hat sich auf so unterschiedlichen Spielwiesen so erfolgreich getummelt wie Späth. Dazu schrieb er Kolumnen und moderierte Politrunden im Fernsehen. Viele fragten neidvoll: „Wie schafft er das alles nur?“ Einmal noch stellte er sich der Politik zur Verfügung, als er dem Unions-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber 2002 als präsumtiver Superminister für Wirtschaft und Arbeit zur Seite stand. Doch Stoiber verlor die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder. Späths Trauer über die verpasste Rückkehr in die Politik hielt sich in Grenzen.

Wachsende Sorge

In den letzten Jahren sah sich der Unermüdliche gezwungen kürzerzutreten. Ihm, der immer an der Zukunft arbeitete, glitt die Gegenwart aus den Händen. Späth litt an Demenz und lebte zuletzt im Pflegeheim. In seinem letzten großen Interview warnte er im Sommer 2012 in der Stuttgarter Zeitung vor dem Zerfall Europas: Das Herumgiften müsse aufhören, sagte er. „Wir müssen wieder eine Stimmung aufbringen, die das Gemeinsame betont.“ Deutschland brauche Europa. „Entweder Europa läuft – oder es läuft gar nichts.“

Lothar Späth, der als Ministerpräsident von 1978 bis 1991 Baden-Württemberg prägte wie wenig andere – im Innern und in der Wahrnehmung von außen –, ist in der Nacht zum Freitag im Alter von 78 Jahren gestorben.