Roman Herzog hat seine Amtszeit vor allem mit seiner „Ruck“-Rede vom April 1997 und mit seiner Volksnähe geprägt. Wie schon Theodor Heuss wirkte er vor allem über seine Reden. In der Nacht zum Dienstag ist er im Alter von 82 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Stuttgart - In das Amt gedrängt hat er sich nicht. Bundespräsident wurde Roman Herzog eher zufällig. Als Helmut Kohl Ausschau hielt nach einem Nachfolger für Richard von Weizsäcker, schlug er Johannes Rau von der SPD vor, scheiterte damit aber am Widerspruch der FDP und auch seiner eigenen Partei, der CDU. Erst recht kein Glück hatte Kohl mit seinem Ersatzvorschlag, dem sächsischen Justizminister Steffen Heitmann. Mit missverständlichen Äußerungen zur deutschen Vergangenheit löste der Mann aus den neuen Bundesländern einen Entrüstungssturm aus. Die FDP rückte sofort von ihm ab, und auch die CSU gab zu verstehen, dass sie Heitmann in der Bundesversammlung nicht wählen werde. Als Demonstration gegen Helmut Kohl luden die Bayern den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, im Herbst 1993 zur Klausurtagung der Landesgruppe nach Wildbad Kreuth ein. Damit nahmen die Dinge ihren Lauf, Herzog wurde Präsidentschaftskandidat.

 

Darüber war es zwischen Kohl und der CSU zum Streit gekommen, was insofern erstaunlich war, als Roman Herzog ein Schützling Kohls aus den siebziger Jahren war. Damals hatte der Ministerpräsident Kohl den jungen Staatsrechtsprofessor in der Verwaltungshochschule Speyer entdeckt und ihn zum Mitglied seiner Landesregierung gemacht. Später unterstützte er die Kandidatur des CDU-Mitglieds Herzog als Bundesverfassungsrichter. Kohl, der sich zunächst in eine fast ausweglose Situation manövriert hatte, erkannte rasch die Signale aus den Parteien und befürwortete nun vorbehaltlos die Kandidatur Roman Herzogs. Am 23. Mai 1994 wurde er von der Bundesversammlung mit 696 zu 605 Stimmen im dritten Wahlgang gegen Johannes Rau gewählt. Später kommentierte Herzog auf jene ironische Art, die zu seinem Markenzeichen wurde, die Machtspiele der Parteien: „Gefragt hat mich eigentlich keiner, aber alle haben über mich verfügt.“

Roman Herzog hatte immer eine gewisse Distanz zum politischen Betrieb

Er hätte ja rechtzeitig Nein sagen können, aber er fand es durchaus verlockend, das hohe Amt des Präsidenten am Bundesverfassungsgericht aufzugeben und Präsident aller Deutschen zu werden. Allerdings trat er dieses Amt mit einer gewissen Distanz zum politischen Betrieb an. Die Jahre am Bundesverfassungsgericht hatten ihn geprägt. Von dorther hatte er mehrfach gerügt, „das Politik immer mehr in Karlsruhe statt in Bonn gemacht wird“.

Zudem hat sich Herzog über die politische Bedeutung seines Amtes und über die Möglichkeiten, Einfluss auf die Politik zu nehmen, wohl von allen Bundespräsidenten die geringsten Illusionen gemacht. Darin war er Experte. Keiner seiner Vorgänger war formal so perfekt auf das Amt vorbereitet wie er. Den maßgeblichen Verfassungskommentar über Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten hat er selber geschrieben. Die fast zweihundert Seiten im „Maunz-Dürig“ – dem Kommentar zum Grundgesetz – zu diesem Thema stammen aus seiner Feder. Nur zu gut wusste er, dass der Bundespräsident als Reaktion auf Weimar aus der Politik weithin verbannt ist. Er soll sich zurückhalten und sich nicht in die aktuelle Politik einmischen.

Nicht einmal von den politischen Alltagsrechten hat Herzog Gebrauch gemacht. Er hat kein Gesetz angehalten, weil ihm verfassungsrechtliche Bedenken gekommen wären. Vielleicht wollte der frühere Verfassungsrichter, nicht dazu beitragen, dass noch mehr Gesetze in Karlsruhe landen. So war der Verfassungsjurist, ein extrem „unjuristischer“ Bundespräsident. Statt dessen konzentrierte er sich auf die zivile, die volkspädagogische Aufgabe, über Reden zu wirken – nahezu die einzige Möglichkeit, das Amt auszufüllen. Er orientierte sich an seinem Vorbild Theodor Heuss, der schon gesagt hatte, er wolle ein redender und reflektierender Präsident sein – und der damit den Stil des Amtes prägte.

In der „Ruck“-Rede forderte er mehr Innovation und eine Modernisierung der Gesellschaft

Roman Herzog hat sich an diese Vorgabe gehalten und sie sogar übererfüllt. Da er an die „Macht der Argumente“ glaubte, hatte er unzählige Reden gehalten und Interviews gegeben. Sein Motto lautete: „Der Bundespräsident muss Themen anpacken, die sonst nicht laufen.“ Damit wollte er Diskussionen anstoßen, sich dann aber nicht mehr einmischen, denn er wollte sich „weder nach rechts noch nach links erwischen lassen“. Das ist ihm nicht immer gelungen. Mit seinem Satz „Der Nationalstaat im herkömmlichen Sinn ist am Ende“ löste er Unmut aus. Tatsächlich interessierte Herzog das Thema Staat wenig. Einmal sagte er: „Ein Drittel Staat ist mehr als genug. Zwei Drittel Staat soll die Gesellschaft selber machen. Wenn das funktioniert, können wir uns den Staat auch leisten.“

Um so entschiedener wandte er sich der Gesellschaft und ihren Problemen zu: Wirtschaft, Bildung, Technik, Wissenschaft, Jugend. Er verfolgte in seinen Reden eine ausgleichende, aber für Neoliberales durchaus offene Grundlinie. So konnte er sagen: „Wir haben hundert Jahre gebraucht, das soziale Netz auszubauen. Ich hoffe nicht, dass wir hundert Jahre brauchen, es zu reformieren.“ Herzog forderte mehr Offenheit für Innovationen und eine Modernisierung der Gesellschaft. So ist denn auch seine Berliner „Ruck“-Rede vom April 1997 seine wichtigste geworden. Er beklagte den Stillstand in Deutschland und forderte, durch das Land müsse endlich ein Ruck gehen. Aber weil er niemand für den Stillstand namhaft machte, fühlte sich auch niemand angesprochen und die Rede blieb letztlich ohne Folgen. Herzog nahm es resignierend zur Kenntnis.

Zu seiner Popularität trug auch bei, dass es ihm an Sendungsbewusstsein fehlte

Wirkungslos blieb er aber nicht. Er hatte versprochen, die neuen Bundesländer zu „durchpflügen“, das hat er in vielen Reisen getan. Mit einfachen Menschen konnte er umgehen und war immer bereit, sich ihre Sorgen anzuhören. „Ich bin zwar kein Arbeiterkind,“ sagte er, „aber ich bin in Niederbayern unter Arbeitern aufgewachsen. Ich kenne die Leute, weiß wie sie denken.“ Trotz seines steilen Aufstiegs und seiner umfassenden Bildung – als Kultusminister in Stuttgart hatte er 1989 das Latein-Abitur noch einmal mit glänzendem Ergebnis abgelegt – ist er „einer von den Leuten“ geblieben.

Zu seiner Popularität trug auch bei, dass es ihm an Sendungsbewusstsein fehlte. Das unterschied ihn fundamental von seinem Vorgänger Richard von Weizsäcker, der die Moral zum prägenden Stilmittel seines Amtes erhob. Das war Herzogs Sache nicht, er vermied nach Möglichkeit moralische Urteile. Wenn es jedoch um die düsteren Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte ging, wurde er sehr ernst. Er war der erste Bundespräsident, der nach Auschwitz reiste, und von seiner heiklen Mission in Polen zum fünfzigsten Jahrestag des Warschauer Aufstandes bleibt die aufrichtige Bitte um Vergebung in Erinnerung. Ansonsten zog er es vor, seine Gefühle hinter Ironie und seiner „unstillbaren Spottlust“ zu verstecken, die er selber als seinen größten Fehler bezeichnete. Geschadet hat ihm das aber nicht, eher im Gegenteil. „Der Witz meines Amtes,“ so bekundete er einmal, „besteht darin, dass alle mich lieben, weil ich niemandem wehtun muss.“ Jugendlichen konnte er sagen, Lehrer müssten auf alles eine Antwort haben, Bundespräsidenten nicht. Als er das Große Verdienstkreuz mit Stern zu verleihen hatte, bedeutete er dem Geehrten, er könne ihm leider nicht mehr aushändigen als „dieses bisschen Spritzguss und Email“.

Manchmal konnte er sich mit seine Ironie auch vergaloppieren, wie etwa mit dem Bekenntnis, mit dem er sich gegen das Überreichen von Blumensträußen wehrte – er habe „keine Beziehung zu abgeschnittenen Blumen“. Da brachte er die organisierten Floristen gegen sich auf. Die Bürokratie nahm Roman Herzog auf die Schippe mit den Worten, manche Ministerien seien nur dazu da, „dass sich nichts ändert“.

Manchmal vergaloppierte er sich mit seiner Ironie

Nein, Roman Herzog war kein Bundespräsident, der dieser Institution neue Höhen erschlossen oder ihr neue Bedeutung verliehen hätte. Gewiss aber hat er sie vermenschlicht, und das ist nicht wenig. Die Bevölkerung hätte es jedenfalls begrüßt, wenn er, der 1999 ausschied, fünf weitere Jahre amtiert hätte. Zuletzt lebte Roman Herzog auf der Götzenburg im baden-württembergischen Jagsthausen bei Heilbronn, wo seine zweite Frau Alexandra Freifrau von Berlichingen zuhause ist. Seine erste Frau Christiane Herzog, die sich nicht nur während der Amtszeit ihres Mannes im sozialen Bereich engagierte, war im Juni 2000 gestorben.

Einem von ihm verfassten Lehrbuch über Allgemeine Staatslehre hatte Roman Herzog bezeichnenderweise ein Motto aus Grimms Märchen vorangestellt. Da sagt im Rumpelstilzchen der Zwerg zum König: „Nein, lasst uns vom Menschen reden! Etwas Lebendiges ist mir lieber als alle Schätze der Welt.“