Russlanddeutsche sind am Wochenende in vielen Städten gegen eine aus ihrer Sicht ausufernde „Ausländergewalt“ auf die Straße gegangen. Anlass war die vermeintliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen durch einen Asylbewerber.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Lahr - Ein von der Polizei dementiertes Gerücht, wonach in Berlin ein 13-jähriges Mädchen von einem Asylbewerber entführt und vergewaltigt worden sei, hat ausgereicht, um in der ganzen Republik Spätaussiedler vor Rathäusern aufmarschieren zu lassen. Verbreitet wurde die Falschmeldung von russischen Medien, wer die angeblich spontanen Demonstrationen organisiert hat, ist nicht bekannt.

 

„Es muss einen spiritus rector gegeben haben“, argwöhnt der Lahrer Bürgermeister Wolfgang G. Müller (SPD). Das Stadtoberhaupt der zweitgrößten Stadt im Ortenaukreis ließ am Sonntag sein Mittagessen stehen, als er hörte, dass sich vor dem Rathaus etwa 300 Spätaussiedler versammelten, um gegen Asylbewerber zu protestieren.

Die Versammlung in Lahr war keine isolierte Aktion, am Samstag demonstrierten 700 Spätaussiedler in Berlin, weitere 300 im Stadtteil Marzahn. Aufmärsche gab es auch in Osnabrück und am Sonntag gingen etwa 4500 Spätaussiedler in mehreren Städten Baden-Württembergs gegen eine aus ihrer Sicht ausufernde Gewalt von Ausländern auf die Straßen. In Ellwangen kamen laut Polizei schlagartig rund 150 Menschen auf dem Marktplatz.

Nach einem Marsch durch die Stadt, „der schließlich vor der Eingangspforte zur Landeserstaufnahmeeinrichtung endete“, wie ein Polizeisprecher sagte, kamen 500 Menschen zusammen. Sie machten laut Behörde einen „insgesamt unorganisierten Eindruck“. Ein Sprecher sei der Polizei als Funktionär der regionalen NPD bekannt gewesen. Im Unterschied zu anderen Städten stellte sich in Lahr der OB der Menge und forderte sie auf, nicht falschen Meldungen auf den Leim zu gehen. „Runterkommen auf normale Temperaturen“, empfahl Müller per Megafon den teilweise in gebrochenem Deutsch pöbelnden Demonstranten. „Lassen Sie sich nicht aufstacheln.“

OB: Spätaussiedler treten in Konkurrenz zu den Flüchtlingen

Der seit 19 Jahren amtierende Oberbürgermeister wies die Demonstranten darauf hin, dass die rund 10 000 Spätaussiedler, die Lahr nach dem Abzug der kanadischen Streitkräfte in den 1990er Jahren aufgenommen hat, anfangs ebenfalls nicht beliebt waren, aber nach und nach ihren Platz in der Region gefunden hätten. Es war das erste Mal, dass Spätaussiedler in Lahr überhaupt auf die Straße gegangen sind. „Man darf das jetzt nicht überbewerten“, sagte Müller am Montag.

„Es zeigt eben, wie dünn die Haut bei vielen Menschen derzeit ist.“ Außerdem sei das Verhalten der ehemaligen Russlanddeutschen nicht ganz verwunderlich. Zuletzt gekommene Migranten – und das sind die Spätaussiedler trotz ihrer weit zurückreichenden deutschen Wurzeln gleichwohl – würden immer in einen Konkurrenzkampf mit Neuankömmlingen treten. „Wir müssen alle miteinander darüber diskutieren“, forderte Müller die Lahrer Bürger auf.

Auch in Schwäbisch Gmünd (Ostalbkreis) und Crailsheim (Kreis Schwäbisch Hall) folgten Menschen dem Aufruf, der im Internet verbreitet worden war. In Schwäbisch Gmünd wurden rund 50, in Crailsheim etwa 30 Personen gezählt. In Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis) fand eine Demonstration von rund 1300 Russlanddeutschen unter dem Motto „Gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland“ statt. Die Menschen trugen Transparente mit folgenden Sprüchen: „Ich habe Angst um meine Enkel“ oder: „Respekt für deutsche Kultur.“ Auch diese Aktion verlief friedlich.