Immer mehr Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien drängen ins Stuttgarter Hilfesystem, das nun an seine Grenzen stößt.

Stuttgart - Viele soziale Einrichtungen in der Stadt sind mit einem neuen, für sie schwierigen Phänomen konfrontiert: der wachsenden Zahl verarmter Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. Diese gesellen sich zu den Bedürftigen in der Wärmestube der Evangelischen Gesellschaft, lassen sich beim Migrantendienst der Malteser kostenlos behandeln oder kommen ins La Strada, wo sich Prostituierte Hilfe holen. Man trifft sie auch in der Königstraße, wo sie Passanten um Geld anbetteln. Viele der Migranten sind Sinti oder Roma, aber längst nicht alle. „Wir haben es mit einer Armutswanderung zu tun“, warnt Sozialamtsleiter Walter Tattermusch, der sich einem Problem gegenübersieht, für das er keine Lösung hat. „Wir haben kaum rechtliche Möglichkeiten, den Menschen Hilfe zu gewähren“, so der Amtsleiter, der im Oktober dem Sozialausschuss einen Bericht über diese aus seiner Sicht beunruhigende Entwicklung vorlegen will.

 

Vor allem für die Wintermonate fürchtet Tattermusch eine Verschärfung der Lage. „Wir hatten schon im vergangenen Winter größte Probleme, die vielen Rumänen und Bulgaren in der Notübernachtung unterzubringen.“ Die Platzzahl ist begrenzt, die Notübernachtung soll vor allem Stuttgarter Wohnungslosen zugutekommen. Deshalb ist die Haltung der Stadt strikt: „Wir gewähren den Leuten ein bis zwei Übernachtungen, bis zu dem Tag, an dem der nächste Bus nach Rumänien oder Bulgarien fährt, und wir bezahlen die Rückfahrkarte.“ 91 Euro kostet die Fahrt nach Rumänien, 111 Euro nach Bulgarien, aber selbst wenn die Zuwanderer das Angebot annehmen, ist das Problem nicht gelöst. „Oft sind die Menschen nach vier Wochen wieder da und sagen, sie suchen Arbeit. Eine realistische Chance haben sie nicht“, erklärt Tattermusch. Er schätzt, dass sich in Stuttgart 150 bis 200 dieser „sozial randständigen“ Zuwanderer regelmäßig aufhalten, Tendenz steigend.

Sabine Constabel vom Gesundheitsamt sieht sich schon sehr viel länger mit der Zuwanderung aus dem Osten Europas konfrontiert. Sie geht von sehr viel höheren Zahlen aus. Von den etwa 2700 Prostituierten in Stuttgart seien 90 Prozent Ausländerinnen, die Hauptzuzugsländer sind Rumänien, Bulgarien und Ungarn, viele der Frauen stammen aus verarmten Sinti- und Romafamilien, wie Constabel feststellt. Die Sozialarbeiterin des Gesundheitsamts schildert einen aus ihrer Sicht typischen Fall: den einer jungen bulgarischen Prostituierten, die von einem Freier krankenhausreif geschlagen wurde. Die Frau sei wegen ihrer Arbeit längst psychisch krank. „Ich habe ihr angeboten, den Kontakt zu einer bulgarischen Sozialarbeiterin herzustellen, die ihr eine Stelle in einem Hotel vermitteln kann“, erzählt Constabel. Die Antwort der Frau war Nein: ihre Familie bestehe aus zehn Menschen, keiner habe Arbeit, mit den 120 Euro aber, die sie in einem bulgarischen Hotel verdienen könne, seien keine zehn Angehörige durchzubringen. Constabel: „Solange sie in Stuttgart auf den Strich geht, kann sie jeden Monat 2000 Euro heimschicken.“

In den meisten Fällen seien ohnehin Brüder oder Cousins dabei, die dafür sorgten, dass die Mädchen nicht auf die Idee kämen auszusteigen. „Da kann eine Tracht Prügel helfen, über die sich die Frauen nicht einmal wundern. Die Mädchen sind an Gewalt gewöhnt.“ Und wenn die Frauen doch einmal nach Hause fahren, kämen sie mit Tüten voller Psychopharmaka zurück. Constabel stellt ernüchtert fest: „Solange die deutschen Freier lieber zu den jungen, hilflosen osteuropäischen Frauen gehen und nicht zu selbstbewussten deutschen Huren, wird der Zuzug nicht versiegen.“

Hans-Jörg Longin sitzt im Stuttgarter Ordnungsamt und hat einen gänzlich anderen Blick auf den Osten Europas. Longin ist zuständig für die Betteltrupps, die bevorzugt zu Sommerfest-, Weindorf- und Weihnachtsmarktzeiten in der Stuttgarter Innenstadt anzutreffen sind. Hauptherkunftsländer: Bulgarien, Rumänien, Slowakei. „Da sitzen die Ärmsten der Armen“, sagt der städtische Mitarbeiter, dessen Aufgabe ist, die meist in Gruppen organisierten Zuwanderer vom aggressiven Betteln abzuhalten. Longin und seine Kollegen stellen fest, dass die Methoden immer ausgefeilter werden. „Mal werden Kleinkinder mitgebracht, mal fast verhungerte Hundewelpen“, erzählt Longin. Im Moment sitzen viele der Bettler im Rollstuhl. „Da kann es dann schon bei der nächsten Straßenecke zu einer wundersamen Heilung kommen“, sagt er trocken. Für Ordnungshüter aber ist es schwierig, die Bettler im Rollstuhl vom Platz zu verweisen, ohne Passanten gegen sich aufzubringen. Viel Handhabe gegen die Bettler hat das Ordnungsamt ohnehin nicht: „Wir können einen Teil des Bettelgeldes einziehen und die Leute wegbringen, wissen aber, dass sie wiederkommen.“ Aber die Erfahrung lehre: regelmäßige Kontrollen wirkten dennoch abschreckend. Und die Erfahrung bringt noch etwas ans Tageslicht: „Die Clanfürsten sitzen im Heimatland und werden reich, die anderen aber bleiben arm“, so Longin.

Die Bettlergruppen finden ihren Weg auch in die Wärmestube der Evangelischen Gesellschaft (Eva), wo sie die Mitarbeiter schnell an ihre Grenzen bringen. In der Wärmestube gibt es kostenlos Tee und Vesper, allerdings ist der Treff auf einzelne Bedürftige ausgerichtet und nicht auf ganze Zuwanderergruppen. „Ein Verband aus 20 Leuten, der sich in der Wärmestube breit macht, in der noch 40 andere sitzen, sprengt schnell unser Minihilfesystem“, sagt Peter Meyer, der Leiter der Stadtmission der Eva. Schwierig werde es auch, wenn die Zuwanderer die Kleiderkammer leer räumen wollten, um die ganze Gruppe auszustatten. „Das machen wir nicht, wir versorgen im Einzelfall“, so Meyer.

Zur Eva kommen nicht nur die organisierten Betteltrupps, sondern zusehends vereinzelte Rumänen und Bulgaren, die sich eine Existenz aufbauen wollen. „Die Leute kommen mit völlig falschen Vorstellungen und rutschen unversehens in ein neues Elend“, so Meyer. Die Sozialarbeiter aber könnten ihnen lediglich eine Grundversorgung gewähren. „Wir haben zwar ein ausgeklügeltes Hilfesystem, aber die verarmten Zuwanderer kommen nicht rein.“

Mittwochs ist Sprechstunde bei der Malteser Migranten Medizin, wo diejenigen behandelt werden, die keine Krankenversicherung haben. Die Koordinatorin Regine Martis-Cisic hat in diesem Jahr begonnen, die Herkunftsländer zu erfassen und festgestellt: von den 270 Patienten, die bis September Hilfe gesucht haben, stammt ein Großteil aus Rumänien und Bulgarien. „Es sind vor allem schwangere junge Frauen, die zu uns kommen, weil sie keine Untersuchung zahlen können.“ Auch diese aus verarmten Verhältnissen stammenden Frauen hoffen auf ein neues Leben in Stuttgart. „Alles, was sie hier haben, ist besser als das zu Hause“, sagt Martis-Cisic. Während sich die einen Frauen mit dem Sammeln von Pfandflaschen oder mit Betteln über Wasser hielten, hofften andere auf einen deutschen Mann, wieder andere fänden einen Putzjob im Hotel, einige ließen nach der Entbindung sogar ihr Kind in der Heimat zurück, um ihre Arbeitsuche fortzusetzen. Für Martis-Cisic ist eines offensichtlich: „Wer ohne Geld, ohne Schulbildung und ohne Sprachkenntnisse in ein fremdes Land geht, ist verzweifelt.“