Nimmt man Verbrechen wie den Mord an Anja Aichele oder das Verschwinden der kleinen Sabine Hammerich, die auch Jahrzehnte danach noch nicht gelöst sind, gedanklich mit in den Ruhestand? Ein Gespräch mit Josef Kögel, langjähriger Leiter des Morddezernats in Stuttgart, und Werner Knubben, ehemaliger Polizist und Seelsorger.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Die Statistik sagt, dass 90 Prozent aller Morde aufgeklärt werden. Doch was, wenn nicht? In Stuttgart ist der Mord an Anja Aichele, der sich am 27. März zum 30. Mal jährt, noch immer ungeklärt. Für die Angehörigen ist das eine Katastrophe. Und für die beteiligten Polizisten? Josef Kögel, 82, hat die Ermittlungen damals geleitet, Werner Knubben, 67, war Polizeiseelsorger. Ein Gespräch über Schuldgefühle und die Hoffnung auf ein Geständnis am Lebensende.

 
Herr Kögel, Herr Knubben, Sie kennen Ihre alten Fälle noch immer aus dem Effeff.
Josef Kögel Sicher nicht alle. Ich habe in meinen 33 Jahren bei der Mordkommission in etwa 350 Fällen von Tötung ermittelt – Totschlag und Mord.
Welche bleiben besonders in Erinnerung?
Kögel Natürlich nicht alle 350. Es sind die großen Fälle – und am eindringlichsten jene, die man jahrelang bearbeitet hat. Ein Kindermörder hat erst zweieinhalb Jahre nach seiner ersten Tat am 10. Januar 1967 gestanden – an meinem Geburtstag. Davor hat er allerdings an Heiligabend noch ein vierjähriges Mädchen am Dachswald zerstückelt. Der Fall war dann zwar aufgeklärt, aber man hat so lange drangehängt. Weihnachten 1966 war für mich das unmöglichste Weihnachten, das es gab. Das prägt sich ein. Ebenso wie die großen Fälle. Der Mord an Sabine Hammerich oder Anja Aichele. Oder der erste Giftmord von 1952. Aufgeklärt haben wir ihn 1964.
Im Gedächtnis bleiben also die langwierigen und spektakulären Fälle haften?
Kögel Oder wenn es einen aus menschlichen Gründen tief bewegt. Rein kriminalistisch sind manche Fälle ja völlig uninteressant. Ich erinnere mich aber an den Tod eines Siebenjährigen, der vom Zug überfahren wurde. Sechs Wochen vorher war seine Mutter tödlich verunglückt. Den Vater habe ich davon abgehalten, aus dem achten Stock zu springen. Mit ihm habe ich bei Cognac die Nacht durch geredet, bis die Angehörigen aus Norddeutschland da waren. Das sehe ich alles noch deutlich vor mir. Das vergisst man nicht und muss es irgendwie verarbeiten.
Wie?
Kögel Ich weiß es nicht. Ich bilde mir ein, eine relativ stabile Psyche zu haben. Ich bin vermutlich ein Meister im Verdrängen.
Hilft das, Herr Knubben?
Werner Knubben Im Vergleich zu Sepp Kögel bin ich ein Waisenknabe. Ich war nach 15 Jahren bei der Polizei noch 35 Jahre Seelsorger. Aber auch bei mir sind die Erinnerungen sofort da. Ich habe ja viele Polizeibeamte betreut, die schwer traumatisiert waren. In Seminaren hat dann jeder seine Geschichte mit den Worten „Es war am . . .“ angefangen.
Kögel Aber wie kommst du denn als Seelsorger damit klar? Allein mit dem Glauben ist das ja alles nicht mehr zu fassen.
Knubben Die Frage wird mir oft gestellt. Aber dafür gibt es oft keine Erklärung. Ich träume selbst noch von schweren Geschichten. Es gibt ja verschiedene Traumatypen. Den Feuerwehrmann etwa, der schon Hunderte Leichen rausgesägt hat. Aber irgendwann ist die Kapazität der Seele erschöpft. Dann braucht er dringend Erholung: Sport, Supervision, Meditation und auch Gebet.