Am 1. September vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Ludwig Baumann ist einer von 30 000 zum Tode verurteilten Deserteuren der Wehrmacht. Nach dem Krieg verfiel er dem Alkohol – und rettete dann die Würde seiner Leidensgenossen.

Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Wenn es nach Adolf Hitler und seinen Vollstreckern gegangen wäre, dann hätte Ludwig Baumann gerade mal zwanzig Jahre zu leben gehabt. Der junge Maurer musste bei der deutschen Hafenkompanie im besetzten Bordeaux dienen. Es war der 3. Juni 1942, als Baumann gemeinsam mit einem Kameraden etwas tat, mit dem er sein Leben aufs Spiel setzte: Kurz vor Mitternacht wagte er es, sich Hitlers Angriffskrieg zu entziehen. Auf der Flucht vor der Fahne wurde er geschnappt, NS-Militärrichter verurteilten ihn zum Tode – wie auch 30 000 andere Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“ oder „Kriegsverräter“.

 

Sein Vater, ein Hamburger Tabakgroßhändler, hatte gute Beziehungen und schaffte es, dass die Todesstrafe in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt wurde. Doch Baumann erfuhr acht Monate lang nichts von der „Begnadigung“, sondern musste weiter in der Todeszelle schmoren. Jeden Morgen, wenn er die Schritte der Wärter hörte, dachte er: „Jetzt ist es so weit. Jetzt holen sie mich.“

Noch heute träumt er von seiner Hinrichtung

Inzwischen ist Baumann 92 und lebt als Witwer in einer Mietwohnung in Bremen-Vegesack. Noch heute verfolgt ihn der Traum, dass er gleich zur Hinrichtung abgeführt wird. Die Ohren, die Augen, die Beine wollen nicht mehr so recht, und er geht ein bisschen gebeugt. Aber der schmächtige Rentner ist eine Symbolfigur für den aufrechten Gang. Der Herder Verlag hat ihm jetzt sogar ein Buch gewidmet: „Niemals gegen das Gewissen. Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs“.

Mit dem Journalisten Norbert Joa als Ghostwriter hat Baumann seine bewegte und bewegende Lebensgeschichte zu Papier gebracht: vom todgeweihten Deserteur zum Alkoholiker und schließlich zu einem erfolgreichen Kämpfer für die Rehabilitierung aller NS-Militärjustizopfer.

Die Nationalsozialisten ließen ihn zwar am Leben, aber er musste ins KZ Esterwegen, später ins berüchtigte Wehrmachtsgefängnis Torgau und schließlich in ein Strafbataillon im Osten – zum Minenräumen oder als Vorauskommando, kurz: als Kanonenfutter. „Ich bin dann verwundet worden – ein glatter Durchschuss“, berichtet Baumann lakonisch. Aber es war zugleich „ein Glückstreffer“. Denn nun landete er im Lazarett. Als im Mai 1945 die Russen kamen, musste er für ein halbes Jahr in Gefangenschaft, auch wenn er bei seiner Festnahme rief: „Ich KZ – Hitler Scheiße!“

Nach dem Krieg der Absturz

Krieg und Verfolgung machten aus ihm einen gebrochenen Mann. Zurück in Hamburg fand er „schräge Freunde“, vertickte Zigaretten auf dem Schwarzmarkt, vertrank das Erbe seines Vaters. In Bremen setzte er sechs Kinder in die Welt und ging doch lieber in die Kneipe, statt sich um sie zu kümmern. Erst als seine Frau 1966 bei der letzten Geburt starb, versuchte er allmählich, von der Flasche loszukommen und Verantwortung zu übernehmen – zunächst für seine Familie, später auch für die Gesellschaft: Er engagierte sich in der Friedens- und Eine-Welt-Bewegung. Ganze Generationen von Bundeswehr-Frischlingen mussten im Bremer Hauptbahnhof an dem einsam protestierenden Rentner vorbei. Er drückte ihnen „Informationen für unzufriedene Soldaten“ in die Hand, Schwerpunkt: Wie man legal oder illegal die Bundeswehr verlassen kann.

Dass er selbst Deserteur war, hatte Ludwig Baumann jahrzehntelang lieber für sich behalten. Nur einmal, gleich nach dem Krieg, gab er sich zu erkennen – und wurde prompt von Kriegsveteranen verprügelt. Als er sie anzeigen wollte, kassierte er angeblich auch noch Dresche von der Polizei. Irgendwann glaubte er fast selber, ein feiges Kameradenschwein zu sein. „Ich schwieg und verdrängte.“

Sein Richter wurde freigesprochen

Bis 1986. Da wurde in Bremen ein Deserteurdenkmal aufgestellt – der letzte Anstoß für Baumann, sich mit seiner eigenen Geschichte zu befassen. Aus dem Bundesarchiv besorgte er sich sein Todesurteil von 1942. Darin las er: „Die Flucht von der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann.“ Der verantwortliche Richter wurde 1951 wegen eines anderen, tatsächlich vollstreckten Todesverdikts angeklagt. Das Urteil von 1953: Freispruch. Ein typischer Fall von Nachkriegsjustiz.

Baumann und die anderen Überlebenden trugen dagegen noch jahrzehntelang den Makel, vorbestraft zu sein. Das brachte ihn dermaßen auf, dass er 1990 drei Dutzend Leidensgenossen zusammentrommelte. Die Grauhaarigen gründeten die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ und wählten den damals 69-Jährigen zum Vorsitzenden.

Von nun an schrieb Baumann Geschichte. Hartnäckig, aber zugleich liebenswürdig suchte er Verbündete für sein neues Lebensziel: die Rehabilitierung der 30 000 Verurteilten – und machte sich damit zur Hassfigur vieler Veteranen. „Sehr geehrter Herr Baumann! Ich kann nur bedauern, dass Sie nicht erschossen oder geköpft wurden. (. . .) Sie wollten doch nicht das System bekämpfen, sondern waren ein feiger, hinterhältiger Schurke.“ Dutzende solcher Schmähbriefe hat er erhalten. Die Polizei bot ihm damals sogar Personenschutz an, aber das fand er dann doch übertrieben.

Baumann will kein Held sein

Dass Ludwig Baumann kein politisch engagierter Widerstandskämpfer war und auch kein Held, räumt er selbst ein. Nein, glorifizieren wolle er seine Fahnenflucht keinesfalls. „Feige war ich aber auch nicht. Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“ Heute glaubt er: „Hätten doch nur mehr diesen Krieg verraten, dann hätten Millionen nicht mehr zu sterben brauchen.“

Allen Anfeindungen zum Trotz: Baumann hatte Erfolg. Schritt für Schritt stufte der Bundestag zwischen 1998 und 2009 die  Militärjustizurteile gegen Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“ und schließlich auch „Kriegsverräter“ als Unrecht ein. „Kriegsverräter“, das waren zum Beispiel Leute, die Kriegsgefangenen Brot zusteckten.

Dass solche todeswürdigen Verbrechen endlich keine mehr waren, bedeutete für Baumann eine „innere Befreiung“. Sechseinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende hatte das Ringen um seine Würde ein Ende. „Ich denke, ich habe sie mir wiedergeholt.“

Als Zeitzeuge in Schulklassen

Mit seinen 92 Jahren könnte er nun eigentlich langsam seinen Ruhestand genießen. „Aber für eine Sache zu kämpfen, ist für mich auch Lebenselixier“, erzählt er mit etwas nuschelig gewordener Stimme. Also tritt er noch ein- bis zweimal im Monat als Zeitzeuge in Schulklassen auf. Seine Botschaft: es lohnt sich, „Nein“ zu sagen. „Haltung haben und zeigen, nicht alles hinnehmen und auch lästig sein – das ist für mich erste Bürgerpflicht.“

Sogar die Bundeswehr hat ihn als einen der letzten noch lebenden Wehrmachtsdeserteure zu Diskussionen eingeladen. Dabei kann dem Militär eigentlich gar nicht gefallen, was der überzeugte Pazifist zu sagen hat: „Man kann doch nichts Besseres tun, als auch in Zukunft jeden Krieg zu verraten.“ Ein Glück, dass dafür heute niemand mehr in der Todeszelle landet, jedenfalls nicht in Deutschland.