Der Zusammenbruch der Sowjetunion vor 30 Jahren brachte Millionen Menschen Freiheit. Kremlchef Putin aber spricht von einer „Tragödie“. Mit Belarus treibt er einen Unionsstaat voran – und die Ukraine zittert. Plant er eine Wiedergeburt der Großmacht?

Berlin - Wenn doch wenigstens richtiger russischer Schnee läge. Aber an diesem Dezemberabend ist es in Moskau eher nass als kalt. Immerhin weht ein Wind, so dass die Flagge nicht schlaff am Mast hängt. Tiefrot ist sie, mit Hammer, Sichel und Stern. Stolzes Symbol des Sowjetimperiums, das nun abgewickelt wird. Arbeiter klettern auf das Dach des Kremls und holen den Stoff ein. Fast zeitgleich ist auch Michail Gorbatschow Geschichte. „Das Schicksal hat es so gewollt“, sagt der letzte Präsident der UdSSR in einer Fernsehansprache und erklärt seinen Rücktritt. Dann würdigt er noch einmal sein Reformwerk: „Die Gesellschaft wurde frei. Das ist unser größter Erfolg, der aber zu wenig gewürdigt wird. Weil wir noch nicht gelernt haben, die Freiheit richtig zu nutzen.“

 

Im Westen feiern die Familien Weihnachten. In der Sowjetunion dagegen ist der 25. Dezember 1991 ein ganz normaler Mittwoch. Tagsüber stehen die Menschen vor Brotläden Schlange. Die Freiheit ist den meisten von ihnen vermutlich egal. Oder sie beginnen sie bereits zu verachten. Aber was ist mit dem Imperium? Auf dem Kremldach hissen die Arbeiter eine neue Flagge. Weiß-Blau-Rot. Russische Föderation. Nach Supermacht klingt das nicht. Es ist das offizielle Ende der Sowjetunion, des ersten kommunistischen Staates, der rund 70 Jahre existiert hatte.

Putin hat alles getan, um das Land zusammenzuhalten

Von einer „Tragödie“ spricht Kremlchef Wladimir Putin (69) zum 30. Jahrestag in der TV-Doku, in der er einmal mehr dem verlorenen Großmachtstatus nachtrauert. „Das, was wir uns in 1000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren“, meint er mit Blick auf das russische Imperium, aus dem nach der Oktoberrevolution von 1917 fünf Jahre später die Sowjetunion mit ihren 15 Republiken hervorging. 40 Prozent seines historischen Gebiets habe Russland damals verloren.

Er erzählt, dass auch der Rohstoffgroßmacht Russland nach dem Ende der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken der Zerfall gedroht habe. Aber Putin hat in seinen mehr als 20 Jahren an der Macht nicht nur alles getan, um das flächenmäßig größte Land der Erde zusammenzuhalten. Er hat auch unter Gorbatschow gewonnene Freiheiten massiv eingeschränkt.

In Europa wächst die Angst

Eine aktuelle Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Wziom zeigt, dass die Menschen sich vor allem an soziale Sicherheit, Stabilität und den Großmachtstatus im Kommunismus erinnern. Die dunklen Seiten – wie die Mangelwirtschaft mit leeren Regalen und langen Warteschlangen sowie die politische Verfolgung – seien bei vielen vergessen.

Dieser Dezember steht im Zeichen eines russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine. Panzerbataillone mit mehr als 100 000 Soldaten beziehen Stellung. Putin warnt den Westen davor, Russlands rote Linien zu überschreiten. Was er meint, hat er im Sommer in einem Aufsatz ausformuliert. Die Ukraine und Belarus, schreibt er, seien zu Zeiten der Zaren „in der großen russischen Nation aufgegangen“. Er spricht ihnen das Recht auf Eigenständigkeit ab. In Europa wächst die Angst vor einer weiteren militärischen Expansion. Schließlich hat Russland schon 2014 die ukrainische Krim annektiert.

Putin spricht fließend Deutsch

Doch geht es wirklich nur um Macht und Weltgeltung? Putin hat den Zerfall der Sowjetunion schon 2005 zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ erklärt, und man kann das natürlich für geschichtsblind halten – angesichts von zwei Weltkriegen. Man kann sich aber auch fragen, woher diese Überhöhung ins Apokalyptische rührt. Schließlich hat dieser Putin einmal ganz anders angefangen. 1991, als Gorbatschow sein Scheitern gesteht, ist er 38 Jahre alt und ein KGB-Offizier, für den es keine Verwendung gibt. Doch dann holt ihn der Bürgermeister seiner Heimatstadt Sankt Petersburg in sein Team.

Anatoli Sobtschak gilt als Westler in der Tradition Peters des Großen. Das ist jener Zar, der im 18. Jahrhundert an der Ostsee eine neue Hauptstadt aus dem Boden stampfen lässt. Sobtschak denkt über eine „neue Hanse“ im Ostseeraum nach, knüpft Verbindungen nach Skandinavien, Schleswig-Holstein und Hamburg. Schließlich macht er seinen ehemaligen Studenten Putin, der fließend Deutsch spricht, zum Vize-Bürgermeister.

Die 90er Jahre: Zerfall statt Pracht

Aber die Realität will nicht zu den hehren Ideen der Reformer passen. Wer zu Beginn der 90er Jahre in Petersburg den Prachtboulevard Newski-Prospekt entlanggeht, der findet Zerfall statt Pracht. Die Kasaner Kathedrale, das Stroganow-Palais und selbst der Winterpalast: Alles ist grau und bröckelt. Wer in eine Seitenstraße abbiegt, trifft schnell auf die ersten Waffenhändler. Sie tragen Schilder mit ihrem Angebot um den Hals: uralte Tokarews, neuere Makarows und natürlich das AK-47, die berühmte Kalaschnikow. Alles aus Armeebeständen.

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Die Waffen finden bald Verwendung in einem archaischen Verteilungskampf. Denn in Moskau hört Präsident Boris Jelzin auf die Einflüsterungen von US-Beratern und gibt die Preise frei. Das Volkseigentum wird privatisiert. Als Gegenwert erhalten die Menschen Wertpapiere, die sie angesichts der Hyperinflation für ein paar Dollar verkaufen. Denn Rubelrenten sind so wertlos wie reguläre Arbeit. Wer aus dem Westen kommt, kann sich zu Beginn der 90er Jahre in Russland alles kaufen, was es zu kaufen gibt. Eine Karte für das weltberühmte Petersburger Mariinski-Ballett kostet zwei Dollar. Fünf in der Zarenloge.

Ist Putin traumatisiert?

Auch Menschen werden käuflich, Körper, vor allem von jungen Frauen. Doch was macht das mit den russischen Seelen? Zur Erniedrigung gesellen sich Angst und Gewalt. Denn einige wenige Männer kaufen die Voucher auf. Man nennt sie die Oligarchen. In Wirklichkeit sind es Mafiapaten, die das Volkseigentum zusammenraffen. Wenn Geld nicht reicht, schicken sie jemanden vorbei. Auch Killer sind käuflich. Jelzin lässt das alles laufen. Die Welt sieht zu, wie der russische Präsident dem Wodka verfällt, an Ehrenformationen entlangwankt und schließlich zur Marionette der Oligarchen wird. Bis heute wird viel darüber gestritten, ob der Westen die Schwäche Russlands ausgenutzt hat. Vor allem bei der Nato-Osterweiterung. Meist bleiben diese Debatten fruchtlos, weil vom Ende her geurteilt wird.

Und Putin: Ist er auch ein Traumatisierter? Unstrittig ist, dass sein Aufstieg zum Präsidenten und seine zunehmend aggressive Politik nicht ohne das russische Trauma der 90er Jahre zu verstehen sind. Denn als Putin Ende 1999 die Amtsgeschäfte von Jelzin übernimmt, haben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Liberalismus und Westorientierung in Russland längst jede Glaubwürdigkeit verloren. Hinzu kommt das zehrende Gefühl der Niederlage. Denn der wahre Verlierer des Kalten Krieges ist nicht der Kommunismus oder „der Ostblock“. Es ist allein Russland.

Nur noch wenige Einflussinstrumente

Doch sehen Kritiker den Kremlchef zu sehr in der Vergangenheit gefangen – und nicht willens, sich großen Zukunftsaufgaben wie etwa dem Schutz des Klimas zu stellen. Die Rohstoffmacht setzt weiter vor allem auf Einnahmen aus dem Öl-, Gas- und Kohleverkauf. Russland sei im Vergleich zu seinem großen Nachbarn China wirtschaftlich schwach – und könne heute wie früher allenfalls als hochgerüstete Atommacht den Status verteidigen, meint der britische Russland-Experte Barry Buzan. Das Riesenreich habe „bedeutendes Potenzial“ als Aggressor etwa auch in der Cyberwelt, besitze aber keine ökonomischen und ideologischen Einflussinstrumente mehr, lautet sein Urteil.