Bilanz in Stuttgart Die Kultur-Tops und Flops 2018
Was war toll, was war öde, was reizte zum Widerspruch in den vergangenen zwölf Monaten? Zehn Gäste aus der Kulturszene und fünf Redakteure berichten von ihren ganz persönlichen Eindrücken im Kino und im Museum, im Theater und im Konzertsaal, im Lesesessel und auf der Fernsehcouch.
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Foto Stuttgart Marketing
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Unterm Stuttgarter Fernsehturm: auch in diesem Jahr jede Menge Kultur
Foto dpa
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Er hat zwar nicht an unserer Umfrage teilgenommen, kommt aber gleich mehrfach in den Antworten vor: der neue SWR-Stardirigent Theodor Currentzis. Wer und was es noch alles auf die Liste geschafft hat, zusammengestellt von den Gästen aus der Kulturszene und Redakteurer unserer Zeitung, erfahren Sie in unserer Bildergalerie.
Foto Kien Hoang Le
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Eva BaumannMein spannendstes Kulturerlebnis: Anne Teresa De Keersmaekers Arbeit „6 Brandenburgische Konzerte“ ihrer Tanzkompanie Rosas. Ihr Gespür für schlichte Schönheit und Musikalität ist atemraubend. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Der Shitstorm rund um das abgesagte Konzert von Feine Sahne Fischfilet in Dessau. Was da in den sozialen Medien an „Meinungen“ kursierte, war unter der Gürtellinie.Die größte Überraschung: Der Film „Komponistinnen“ von Kyra Steckeweh und Tim van Beveren, der viele Preise einheimst. Mein Kulturmensch: Die Journalistin Petra Mostbacher-Dix, die sich mit großem Engagement für die Arbeit der freien Tanzszene in Stuttgart einbringt! Eva Baumann ist Tänzerin und Choreografin in Stuttgart und Berlin.
Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Susanne BendaMein spannendstes Kulturerlebnis: Die Entdeckung des Filmemachers Spike Lee über den Film „BlacKkKlansman“. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die schlichte Umbenennung des „Echo Klassik“ in einen „Opus Klassik“ – unter Beibehaltung des alten Gala-Rituals und der primär kommerziellen Interessen. Die größte Überraschung: Die Hauruckentscheidung der Stadtpolitik in Sachen Interimsoper am Nordbahnhof. Peinlich!Mein Kulturmensch: Cem Özdemir für seine Rede an die AfD: „Wenn Sie bestimmen würden, wer Deutscher ist und wer nicht, dann wäre das ungefähr so, als wenn man Rassisten an das Ausstiegstelefon für Neonazis setzen würde.“Susanne Benda ist Redakteurin im Ressort Kultur.
Foto SWR
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Michael BranikMein spannendstes Kulturerlebnis: Mein Besuch der Ausstellung „Ekstase“ im Kunstmuseum: die erste Gelegenheit, nach neun Monaten Klinik wieder mit Freunden am Kulturleben teilhaben zu können. Das ärgerlichstes Erlebnis: Dass ich nach Eintritt meiner Erkrankung im Ausland erst nach zwei Wochen nach Deutschland gebracht werden konnte. Die größte Überraschung: Wie ich nach acht Monaten Ungewissheit langsam spürte, dass ich allmählich ins Leben zurück kam. Dafür danke ich meinem Herrgott. Mein Kulturmensch: Das Team vom SWR, das mir am 21. November einen wunderschönen Berufsabschied gestaltet hat.Michael Branik war seit 1978 Moderator im Stuttgarter Funkhaus, zuletzt bei SWR 4. Er erlitt Anfang des Jahres einen Schlaganfall.
Foto Theater
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Florian FeiselMein spannendstes Kulturerlebnis: Eine Fahrt mit meiner kleinen Tochter im über hundertjährigen Riesenrad auf dem historischen Jahrmarkt am Schlossplatz. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: war die Verkündung des Plans, die Interimsoper auf dem Gelände der Wagenhallen zu platzieren. Wo hier künstlerische Synergien beschworen werden, spricht man anderswo ehrlicherweise von Gentrifizierung. Die größte Überraschung: war für mich, eine große schwarze Frau in einem bunten Kleid auf dem Marienplatz tanzen zu sehen: Punch Agathe.Mein Kulturmensch: Stephanie Oberhoff, die Punch Agathe mit ihrem Team in unserem Spätzletopf zum Leben erweckt hat. Florian Feisel ist Figurenspieler, Performancekünstler und Regisseur.
Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Nicole GolombekMein spannendstes Kulturerlebnis: „Das 1. Evangelium“ von Kay Voges am Schauspiel Stuttgart hat gezeigt, wie man mit dem Matthäus-Evangelium und Godard-Filmzitaten drängende Fragen von heute thematisieren kann.Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Politisch mutlose Ein- und Ausladungen der Musikbands Young Fathers bei der Ruhrtriennale und Feine Sahne Fischfilet bei der Stiftung Bauhaus in Dessau. Die größte Überraschung: Wie heftig der Dirigent Teodor Currentzis Stuttgart enthusiasmiert hat. Mein Kulturmensch: Bernd Stegemann, der Gedanken, die man sich zum Theater und zur Moral macht, elegant formulierte. Nicole Golombek ist Redakteurin in den Ressorts Leben und Kultur.
Foto Lichtgut
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Christine HannemannMein spannendstes Kulturerlebnis: Die Gerhard-Richter-Schau im Museum Barberini in Potsdam. Richter macht den Zufall als Schöpfer des Werks stark, um die eigene Kreativität zurückzustellen.Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Der Wohnungsgipfel in Berlin, der dem kulturellen Niedergang des Wohnens, also der Reduktion unserer Existenzgrundlage auf Rendite, nichts entgegenzusetzen hatte.Die größte Überraschung: Tel Aviv – eine Stadt voller Lebenslust und kultureller Vielfalt in einem aussichtslosen Umfeld.Mein Kulturmensch: Robert Seethaler. Sein Roman „Das Feld“ entführt mich in eine Sprach- und Gedankenwelt, in der ich sofort jeglichen Stress abstreifen kann.Christine Hannemann ist Architektur- und Wohnsoziologin an der Universität Stuttgart.
Foto Michael Steinert
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Ulla HanselmannMein spannendstes Kulturerlebnis: Bingewatching in der ARD-Mediathek mit „Babylon Berlin“. Serienkunst made in Germany. Geht doch!Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Fünf namhafte Architekturbüros denken bei einem Workshop über die verhunzte Stuttgarter Kulturmeile nach. Und der Oberbürgermeister glänzt mit Abwesenheit. Die größte Überraschung: Alexander Gersts galaktische Stippvisite bei Kraftwerk auf dem Schlossplatz. Aus 400 Kilometer Höhe rief er zum friedlichen Miteinander der Nationen auf. Gänsehaut! Mein Kulturmensch: Elena Ferrante. Seit Simone de Beauvoir hat mich keine (feministische) Autorin mehr so begeistert. Ulla Hanselmann ist Redakteurin im Ressort Kultur.
Foto Staatstheater Stuttgart
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Gabriele HintermaierMein spannendstes Kulturerlebnis: Die Eröffnung der Gedenkstätte Hotel Silber, die viele Hürden der Politik überwinden musste und jetzt auf reges Interesse stößt.Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die endlose Geschichte der dringenden Sanierung des Opernhauses, obwohl der Zustand des Gebäudes seit Jahren bekannt ist. Die größte Überraschung: Das Ensemble unter dem Schauspielchef Burkhard Kosminski, das mit so viel positiver Energie das Schauspielhaus in Besitz genommen hat. Mein Kulturmensch: Teodor Currentzis, der in kürzester Zeit als SWR-Chefdirigent aus zwei unterschiedlichen Orchestern einen Klangkörper geschaffen hat: jedes Konzert ein Ereignis! Gabriele Hintermaier ist Schauspielerin am Staatstheater Stuttgart.
Foto Theater
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Rolf MillerMein spannendstes Kulturerlebnis Der Film „Grießnockerlaffäre“ – ein Streifen, wie er nur alle zwanzig Jahre gelingt: „Pulp Fiction“, „The Big Lebowski“ und „Blues Brothers“ nenne ich da in einem Atemzug. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Der Nachfolgefilm „Sauerkrautkoma“ hat leider die Handlung vergessen, was aber nach einem Meisterwerk passieren darf. Die größte Überraschung Ebenfalls die „Grießnockerlaffäre“, ein in Handlung, Timing und Musik stimmiger Film mit einer Fotografie, die in mancher Einstellung im Museum neben Gursky hängen kann. Mein Kulturmensch Ed Herzog, der Regisseur der beiden Filme. Ein Regisseur, dem ein Meisterwerk gelingt, ist Kulturmensch des Jahres, automatisch. Rolf Miller ist Kabarettist.
Foto Galerie
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Gabriele OberkoflerMein spannendstes Kulturerlebnis: Die Begegnung mit dem Landwirt Mathias von Mirbach in der Ausstellung „Kaleidoskop Worpswede“: Dialoge zwischen Kunst und Landwirtschaft. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die Idee einer Interimslösung der Oper Stuttgart auf dem Gelände der Container-City vor den Wagenhallen. Die größte Überraschung: Das dreitägige öffentliche Treffen „Humus Sapiens“, kuratiert von Lisa Biedlingmaier in der Container-City des Kunstvereins Wagenhalle. Mein Kulturmensch: Der Künstler Georg Lutz, Preisträger der Werner-Pokorny-Stiftung. Seine künstlerische Haltung bezieht sich auf das Heute und Jetzt. Foto-, Video- und Objektbilder, die nachwirken.Gabriela Oberkofler ist Künstlerin.
Foto Lichtgut
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Axel PreußMein spannendstes Kulturerlebnis: Die Absolventen-Vorsprechen an den deutschsprachigen Hochschulen für Schauspielkunst, die ich als Intendant von Berufs wegen besuche – weil es extrem spannend ist, neue Talente zu entdecken. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die Vorgänge um den nicht vergebenen Nobelpreis für Literatur. Die größte Überraschung: Dass ich den lustigen schwäbischen Schwank „Tratsch em Treppahaus“ ohne Simultanübersetzung verstanden habe, obwohl ich erst seit diesem Jahr in Stuttgart lebe.Mein Kulturmensch: Unser Sohn, der in diesem Jahr ganz toll lesen gelernt hat. Axel Preuß ist gebürtiger Hamburger und Intendant des Alten Schauspielhauses und der Komödie im Marquardt.
Foto Lichtgut
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Gunther ReinhardtMein spannendstes Kulturerlebnis Das Berliner Konzert des Popintellektuellen David Byrne, der zwischen Brecht und Warhol, absurdem Theater und Musikspektakel große Kunst entstehen lässt.Das ärgerlichste Kulturerlebnis Dass die Oper doch nicht ins Paketpostamt zieht.Die größte Überraschung Dass nicht nur Punkbands wie Feine Sahne Fischfilet nach Chemnitz Position bezogen haben, sondern auch Helene Fischer. Respekt!Mein Kulturmensch Julian Knoth, der sich für die Vernetzung der Stuttgarter Kreativszene stark macht und nebenher mit der Noiserock-Band Die Nerven das beste und wichtigste deutsche Album des Jahres namens „Fake“ abgeliefert hat.Gunther Reinhardt ist stellvertretender Leiter des Ressorts Kultur.
Foto Lichtgut/Leif Piechowski
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Tim SchleiderMein spannendstes Kulturerlebnis: Der Stuttgarter „Lohengrin“: Der Regisseur Arpad Schilling und der Dirigent Cornelius Meister schaffen eine Aufführung der Wagner-Oper, bei der man endlich nicht ständig an Nazi-Reichsparteitage denken muss. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Der scheinbar unaufhaltsame Niedergang der Deutschen Bahn. Nebst der Opernsanierungsdebatte in Stuttgart. Ach ja, und natürlich Horst Seehofer. Was vergessen? Größte Überraschung: Dass auch Joanne K. Rowling sich schlicht übernehmen kann – wie jetzt beim zweiten Teil ihrer Filmserie „Phantastischen Tierwesen“. Mein Kulturmensch: In memoriam: Berthold Leibinger, Unternehmer und Mäzen mit beispielhafter Neugier und Haltung.Tim Schleider leitet das Ressort Kultur.
Foto Staatstheater Stuttgart
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Viktor SchonerMein spannendstes Kulturerlebnis: Die vierzig Kinder von drei bis zehn Jahren beim Sinfoniekonzert zu beobachten, die vorn im Beethovensaal hoch konzentriert Bartóks „Konzert für Orchester“ lauschten. Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die vorzeitige Beendigung der Intendanzen an der Berliner Volksbühne (Chris Dercon) und den Münchner Kammerspielen (Matthias Lilienthal). Die größte Überraschung: Das Stuttgarter Publikum – es ist tatsächlich so phänomenal aufgeschlossen wie sein Ruf.Mein Kulturmensch: Swetlana Alexejewitsch, die in ihren Kurzgeschichten, Essays und Reportagen dem heutigen Menschen so nahe kommt wie wenig andere. Viktor Schoner ist seit dieser Spielzeit Intendant der Staatsoper Stuttgart.
Foto ifa
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Ellen StrittmatterMein spannendstes Kulturerlebnis: Germaine Krulls avantgardistische Perspektiven auf die Eisenkonstruktionen ihrer Zeit, entdeckt in einer Ausstellung in München.Das ärgerlichste Kulturerlebnis: Die Arenakapelle in Padua – die einzigartigen Fresken von Giotto sind nur für wenige Minuten sichtbar, dann geht das Licht aus. Die größte Überraschung: Die Malereien von Jonas Burgert, gesehen in der Galerie Blain/Southern in Berlin – ein Welttheatern auf 22 Meter Länge. Mein Kulturmensch: Ein Pseudonym mit variablen Lebensläufen, einer geliehenen Stimme und einem Gesicht aus Stein steht für den deutschen Beitrag auf der Biennale Venedig 2019: Natascha Süder. Ellen Strittmatter ist Leiterin der Kunstabteilung am Institut für Auslandsbeziehungen.