Kulturbilanz 2019 15 Stuttgarter Kulturmenschen, Überraschungen und Ärgernisse
Was war toll, was war öde, was reizte zum Widerspruch in den vergangenen zwölf Monaten? Zehn Gäste aus der Kulturszene und fünf Redakteure berichten von ihren ganz persönlichen Eindrücken im Kino und im Museum, im Theater und im Konzertsaal, im Lesesessel und auf der Fernsehcouch.
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Foto Clemens Schiesko, dpa/Christoph Schmidt/Fabian Sommer/Marijan Murat, Frank P. Kistner, Guhl, Lichtgut (6), StZN (2), Mertikat
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Zehn prominente Gäste und fünf Redaktionsmitglieder ziehen Bilanz des Kulturjahrs.
Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Musikvermittlung des Stuttgarter Kammerorchesters bei seiner Januartournee durch Nepal: Arbeit an der Basis, bei der man das Staunen neu lernen konnte. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die Gängelung ungarischer Kulturbetriebe durch den Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Die größte Überraschung Dass die längst überfällige Sanierung des Stuttgarter Opernhauses endlich von Stadt und Land konkret angegangen wird. Mein Kulturmensch sind viele: Die Virtuosität vieler Akkordeonspieler, die in Fußgängerzonen die Welt der Musik von Bach bis Piazzolla durchschreiten, macht mich sprachlos und glücklich. Susanne Benda ist Redakteurin im Ressort Kultur.
Foto Frank P. Kistner
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Ausstellung „Making van Gogh“ im Frankfurter Städel. Toll, wenn Kunsthistoriker mal über den Tellerrand hinausschauen. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Da beginnt Deutschland, Kulturgut zurückzugeben, das in den Kolonien erbeutet wurde – und dann will man doch wieder vorschreiben, wie damit umgegangen werden soll. Die größte Überraschung Dass die Kulturpolitik tatsächlich glaubt, die Digitalisierung sei ein Allheilmittel. Wie wäre es, auch mal über Inhalte nachzudenken? Mein Kulturmensch Nicole Fritz, die der Kunsthalle Tübingen als Direktorin neuen Wind eingehaucht hat. Eine echte Bereicherung für die Kunstszene im Land. Adrienne Braun ist Redakteurin im Ressort Kultur.
Foto Clemens Schiesko
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Produktion „Nein zum Geld“ am Alten Schauspielhaus. Weil sich der Schauspieler Ralf Stech während der Proben verletzt hatte, musste die Inszenierung überarbeitet werden, damit er im Rollstuhl mitspielen konnte. Toll! Das ärgerlichste Kulturerlebnis Dass man spätabends auf öffentliche Verkehrsmittel oft so lange warten muss. Die größte Überraschung Die privaten Kochkünste des Sängers Michael Rapke aus dem Ensemble von „Comedian Harmonists“. Mein Kulturmensch Das Frauennetzwerk von Stuttgart. Eva Geiler ist Schauspielerin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit der Schauspielbühnen Stuttgart.
Foto dpa
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Im Juni das herausragende SWR-Symphonieorchester unter der Leitung von Teodor Currentzis in der Elbphilharmonie. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die „FAZ“-Berichterstattung zur Umstrukturierung bei der Kulturwelle HR 2. Wenn wir auf notwendige Veränderungen immer mit Fundamentalkritik reagieren, wird sich nichts weiterentwickeln können. Die größte Überraschung Wie viel Freude mir die Stuttgarter Kulturlandschaft bereitet: Seit meinem Umzug entdecke ich jeden Tag neue Orte, die mich begeistern. Mein Kulturmensch Benigna Munsi, das Nürnberger Christkind 2019; was für eine unglaubliche junge Frau, die dumpfe rechte Hetze so cool wegsteckt. Kai Gniffke ist Intendant des SWR.
Foto Pav
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Wie sich Ivo Pogorelich in Heidenheim als Arbeiter kostümiert am Flügel zu schaffen machte, um dann im Konzert mit einer Mozart-Meditation zu beeindrucken. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Der Typ in Reihe eins, der kürzlich im Schauspielhaus bei „Italienische Nacht“ die Darsteller anhustete – zwei Stunden lang. Die größte Überraschung Dass sich Leute wundern, dass es Geld kostet, die Stuttgarter Oper zu sanieren, nachdem jahrzehntelang nur notdürftig repariert wurde. Mein Kulturmensch Marco Goecke, der jetzt als Ballettchef in Hannover reüssiert und doch Zeit findet, weiter in Stuttgart bei Gauthier Dance zu choreografieren. Nicole Golombek ist Redakteurin in den Ressorts Leben und Kultur.
Foto Lichtgut/Julian Rettig
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Viagra Boys auf dem Obstwiesenfestival: stumpf, tanzbar und energetisch. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Spotify Wrapped. Auch ich nutze Spotify, und die Funktion Wrapped als Jahresrückblick ist interessant. Im Wettstreit um den besten Geschmack sollte man den direkten Support der Kreativen aber nicht vergessen. Die größte Überraschung „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ im Kunstmuseum: Ragnar Kjartansson hat mich komplett abgeholt. Poetisch, emotional, voller Humor. Mein Kulturmensch Alle Stuttgarter*innen, die sich in Netzwerken wie FF*GZ, Women of Music und in Reihen wie „Girl put your Records on“ für eine diverse Stadt und Kulturlandschaft engagieren. Julian Knoth spielt bei der Band Die Nerven.
Foto dpa
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die wunderbaren Konzerte des Eberhardt-Ludwigs-Gymnasiums und des Knabenchors Collegium iuvenum. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Dieses Jahr musste ich mich glücklicherweise noch nicht ärgern, aber das Jahr hat ja noch ein paar Tage. Die größte Überraschung Auch das ist Kultur für mich: Im Frühling singen die Stuttgarter Vögel kräftiger als anderswo. Großartig! Mein Kulturmensch Harald Schmidt, der mich bei seiner Show im Fach Gehörbildung „geprüft“ hat. Cornelius Meister ist Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart.
Foto Mertikat
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die „Next Frontiers“-Veranstaltung von Tobias Wengert in der Messe Stuttgart. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Kinobesuche. Die meisten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe, waren schwach. Die größte Überraschung Wie viele Freude man mit klassischen Brettspielen geben kann. Viele Menschen lieben es, einander im Spiel zu begegnen. Durch die steigende Digitalität wird das Zusammensitzen am Tisch zum besonderen Ereignis. Mein Kulturmensch Elon Musk – weil er trotz aller Widerstände, Fehlschläge und Wirtschaftsdaten an eine Kultur des Fortschritts glaubt, daran, dass wir heute an den Themen von morgen arbeiten sollen. Felix Mertikat ist Comiczeichner und Spieleentwickler.
Foto Lichtgut/Achim Zweygarth
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Milo Raus „Lamm Gottes“ als Gastspiel im Stuttgarter Schauspielhaus: glasklar gedachtes, zutiefst berührendes Welttheater, das auf dem Fundament der Bibel die brisante Gegenwart zum Flirren bringt. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die Kulturpolitik der AfD, die nach der Nationalität der Staatstheaterkünstler fahnden ließ: notdürftig getarnter Rassismus. Die größte Überraschung Ragnar Kjartanssons „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ im Kunstmuseum: Noch nie war Videokunst so überzeugend wie hier. Mein Kulturmensch ist jemand, den es nur im Plural gibt: die Jugendlichen von Fridays for Future. Roland Müller ist Redakteur im Ressort Kultur.
Foto Lichtgut
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Nach Jahren erstmals wieder eine Feier mit lieben Menschen, Musik, Tanz und Rundflug mit dem Zeppelin über den Bodensee. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Nach wiederholten Versuchen kein Glück gehabt, Karten für einen Ballettabend in der Staatsoper zu ergattern. Mein Pech. Ich probiere es 2020 wieder. Die größte Überraschung „Stuttgart im Schnee“ im Museumsgarten des Stadtpalais. Ich wusste nicht, dass man „ohne Schnee“ so gut rodeln kann! Mein Kulturmensch Laura Halding-Hoppenheit, die sich unbeirrt für gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen wie Schwule und Lesben einsetzt. Edith Neumann ist stellvertretende Direktorin und Sammlungsleiterin im Stadtpalais.
Foto Roman Novitzky
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Ich habe erstmals mit Jirí Kylián für sein Ballett „One of a Kind“ zusammengearbeitet – ein Tanztraum wurde für mich wahr. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die slowakische TV-Sendung „Za Sklom“ („Hinter dem Glas“) zu schauen, die die korrupte politische Situation in der Slowakei aufarbeitet und aufzeigt, dass viele negative Handlungen ohne Konsequenzen bleiben. Die größte Überraschung Die vielen positiven Zuschauerreaktionen auf mein neues Ballett „Impuls“. Mein Kulturmensch Die slowakische Präsidentin Zuzana Caputová. Sie steht für einen neuen politischen Stil und kämpft für bessere Bedingungen für die Kunst. Roman Novitzky ist Erster Solist beim Stuttgarter Ballett, Choreograf und Fotograf.
Foto dpa
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Delegationsreise des Landes Baden-Württemberg nach Namibia, um die Witbooi-Bibel und -Peitsche zurückzugeben. Das ärgerlichste Kulturerlebnis So etwas kann es gar nicht geben, weil es in der Kultur immer irgendetwas gibt, das erfreut. Die größte Überraschung Die Eröffnung des Fontane-Jahres in Neuruppin, weil der Autor langer Romane für jede Menge öffentlicher Aufmerksamkeit und kurzweilige Erlebnisse sorgte. Mein Kulturmensch Max Raabe, weil er bei „MTV Unplugged“ gemeinsam mit dem Rapper Samy Deluxe vorführte, wie komplex Liedkunst sein kann. Sandra Richter ist Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.
Foto Lichtgut/Leif Piechowski
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Begegnung mit der winzigen eisernen Skulptur „Iron Baby“ von Antony Gormley in London: trotz des Materials überwältigend, rührend. Ein Blick auf die Zartheit neugeborener Menschlein. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die Anfrage der AfD im Juni nach der Nationalität der Beschäftigten am Staatstheater. Die größte Überraschung Der Roman „GRM“ von Sibylle Berg; eine düstere, epochale Vision, vergleichbar mit „1984“. Mein Kulturmensch Das Europa-Ensemble am Staatstheater – eine Besinnung auf unseren gemeinsamen europäischen Kulturraum, ein Gegenbild gegen Nationalismus und Rassismus. Elmar Roloff ist Schauspieler am Staatstheater Schauspiel Stuttgart.
Foto Lichtgut/Leif Piechowski
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Das tolle Kinojahr: vom „Jungen“, der „an die frische Luft“ muss, über Tarantinos „Hollywood“ bis zu „Yesterday“ und „Joker“. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Dieser deutsche Debattendrang, wirklich jedes Streitthema der Welt mit Moral, Apokalyptik und Hysterie aufzuladen. Die größte Überraschung Wie viele in der Stadt und im Land plötzlich so staunen, wie teuer die Opernhaussanierung werden kann – und prompt wieder alle alten Vorurteile auf den Tisch kommen. Mein Kulturmensch Die rund 1400 Mitarbeiter der Staatstheater Stuttgart, die seit Jahr und Tag hinter, über und unter der Bühne bei teils skandalös-abenteuerlichen Zuständen große Kunst ermöglichen. Tim Schleider leitet das Ressort Kultur.
Foto markus guhl fotografie
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Mein spannendstes Kulturerlebnis Sicherlich der Besuch der Elbphilharmonie mit einem Konzert von Iannis Xenakis, dem Architekten der Klänge, bei dem Musik und Baukunst ineinander fließen. Das ärgerlichste Kulturerlebnis Hermès at work im Säulensaal der Staatsgalerie in Stuttgart – ein unvergesslicher Einblick in die Welt von Hermès. Ärgerlich war, dass ich nichts mit nach Hause nehmen durfte! Die größte Überraschung Die Honorierung unserer Bücherei in Kressbronn zum Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2020 mit einer Wahl unter die Top 3. Mein Kulturmensch In memoriam: Karl Otto Lagerfeld, der als extravaganter Visionär seiner Zeit immer einen Schritt voraus war. Christine Steimle ist Architektin in Stuttgart.