Kulturbilanz 2020 15 Stuttgarter Kulturmenschen und ein turbulentes Corona-Jahr
Was war toll, was war öde, was reizte zum Widerspruch in den vergangenen zwölf Monaten? Acht Gäste aus der Kulturszene und sieben Redakteure berichten von ihren ganz persönlichen Eindrücken aus einem Jahr, das beinahe komplett unter dem Regiment des Coronavirus stand – aber eben doch nur beinahe.
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Foto Lichtgut/Zweygarth (5), Lichtgut/Rettig, Lichtgut/Piechowski, Roman Novitzky, Molatta, Frank Paul Kistner, Bergmeister, dpa, Klaus Mellenthin
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Acht prominente Gäste und sieben Redaktionsmitglieder ziehen Bilanz des Kulturjahrs.
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Susanne Benda: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die intensive Begegnung mit Stille, einem kondensstreifenblauen Himmel und ungestörter Natur. Dazu: die Kreativität vieler Künstler und Institutionen im Umgang mit den Corona-Regeln. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Der Gratis-Ausverkauf der Kultur via Streaming. Kunst will wahrgenommen werden, aber sie ist auch etwas wert – Kunst kostet! Mein Kulturmensch 2020 arbeitet jetzt im Callcenter, als Lehrer, Servicekraft oder Postzusteller. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Analoges Miteinander. Umarmungen. Nähe. Ein besseres „neues Normal“. Und gemeinsam mit meinem kleinen Enkel der nachgeholte Besuch bei einer Kinderoper im Join. Susanne Benda ist Redakteurin im Ressort Kultur.
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Martin Bez: Mein spannendstes Kulturerlebnis Das Konzert „Conversations“ mit Nick Cave im Januar im Festspielhaus in Baden-Baden. Eine sehr persönliche und eindrückliche Mischung aus Interaktion und musikalischer Darbietung zwischen Künstler und Publikum. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses, das von sehr wenig Zutrauen in die Fähigkeiten der heutigen Architektengeneration zeugt. Mein Kulturmensch 2020 Die zahllosen Kulturschaffenden, die mit ihrem äußerst kreativen Umgang mit der Krise große Energie beweisen – und Systemrelevanz! Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Dass endlich die längst überfällige Sanierung der Stuttgarter Oper in Angriff genommen werden kann. Martin Bez ist Architekt und Geschäftsführer von Bez + Kock Architekten.
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Adrienne Braun: Mein spannendstes Kulturerlebnis Allein unterwegs in den Werkstätten, Fluren und Lagern des Staatstheaters Stuttgart – bei „Black Box“, einem grandiosen „Phantomtheater für eine Person“ des Kollektivs Rimini Protokoll. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Ich war überzeugt, dass wir Menschen uns in Krisen auf das Wesentliche besinnen würden und zusammenrücken. Von wegen. Mein Kulturmensch 2020 Die belarussische Flötistin und Oppositionelle Maria Kolesnikowa. Mutig – und dafür in Haft. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Dass sich niemand mehr über Schreibweisen wie Journalist*innen, Autor_innen oder TexterInnen so furchtbar empören muss – sondern sich lieber über wirklich Wichtiges aufregt. Adrienne Braun ist Redakteurin im Ressort Kultur.
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Isa Dahl: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Ausstellung „Ins Licht gerückt; Künstlerinnen in Oberschwaben im 20. Jahrhundert im Museum Biberach“. 94 Künstlerinnen der Jahrgänge 1859 bis 1965. Schön, mal wieder die Jüngste zu sein. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Die Tatsache, dass Aggression zunehmend als natürlicher Bestandteil der Gesellschaft gesehen wird. Mein Kulturmensch 2020 Janine Mackenroth und Bianca Kennedy haben „I Love Women In Art“ herausgebracht mit 100 weiblichen Kulturschaffenden in Deutschland. Bin auch dabei mit der Galeristin Karin Abt-Straubinger. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Dass der Esa-Astronaut Matthias Maurer 2021 ein Kunstobjekt von Daniel Wagenblast und mir mit zur internationalen Raumstation ISS nimmt. Isa Dahl ist Malerin in Stuttgart.
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Tamas Detrich: Mein spannendstes Kulturerlebnis Der Theater-Parcours „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“ – ein Ausnahmeprojekt unter der Leitung von Burkhard Kosminski, in das alle Mitarbeiter der Staatstheater viel Herzblut steckten. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Corona hat für mich leider jegliches andere Ärgernis irrelevant und unbedeutend gemacht. Mein Kulturmensch 2020 Alle freischaffenden Künstler, die momentan ohne Arbeit und Einkommen dastehen, die trotzdem nicht aufgeben und weiterhin Kunst schaffen. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Dass das Stuttgarter Ballett endlich wieder ein großes Handlungsballett tanzen kann – bestenfalls in einem voll besetzten Opernhaus.Tamas Detrich ist Intendant des Stuttgarter Balletts.
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Ulla Hanselmann: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Erweiterung der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) und die neue John-Cranko-Schule – zwei neue Glanzpunkte funkeln im ansonsten eher trüben Stuttgarter Architekturgeschehen. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Das Fake-Schloss in Berlin. Die Städte stehen vor riesigen Zukunftsherausforderungen. Diese peinliche Attrappe blickt in die Vergangenheit. Mein Kulturmensch 2020 Jan Böhmermann, der im „ZDF Magazin Royale“ Satire und investigative Recherche zu einer messerscharfen Klinge schweißt und in den tiefsten Wunden unserer Gesellschaft bohrt. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Mehr Tempo bei Opernhaussanierung und B-14-Wandel. Ulla Hanselmann ist Redakteurin im Ressort Kultur.
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Nana Hülsewig: Mein spannendstes Kulturerlebnis „Die Gesellschaft“ von Herbordt/Mohren als öffentliches Online-Labor. Inspirierend, visionär und humorvolle Diskussionen über Positionen, Strukturen und Ziele dieser neuen, fiktiven Gesellschaft. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Ich bin so beschäftigt mit dem Umgestalten der Projekte, dem Entwickeln von Möglichkeiten, dass ich den Ärger in die zweite Reihe verbannt habe. Mein Kulturmensch 2020 Martina Grohmann vom Theater Rampe. Unermüdlich denkt sie über Theater im weitesten Sinne nach – philosophisch, künstlerisch, sozial. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt „NORM IST F!KTION #5/2“ Ende Februar. Der Abend vereint Installation, Musik, Theorie und Performance zu einem atmosphärischen Erlebnis. Nana Hülsewig ist Künstlerin der Performance-Gruppe NAF.
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Andrea Kachelrieß: Mein spannendstes Kulturerlebnis In der Stadt: Das neue Haus für die John-Cranko-Schule setzt ein Zeichen für bessere Arbeitsbedingungen und den Freiraum, den Kunst braucht. Auf der Bühne: Marco Goeckes Hommage an Gershwin und Abstand – gute Kunst nimmt Beschränkungen als Inspiration.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Die Stuttgarter Kinos sterben, und wir schauen Netflix. Mein Kulturmensch 2020 Der Musiker Till Brönner, der erkannt hat, dass auch Künstlern eine Interessenvertretung guttut und sie nur gemeinsam stark sind. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Viele persönliche Begegnungen und ein Neustart, der weder große Ziele noch kleine Einrichtungen aus den Augen verliert. Andrea Kachelrieß ist Redakteurin im Ressort Kultur.
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Stefan Kister: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Aufführung von Shakespeares Königsdramen am Weißen Haus in Washington, Regie und Hauptrolle: Donald Trump. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Dass Querdenken nicht mehr für unkonventionelle Wahrheitssuche steht, sondern für Manipulierbarkeit, Obskurantismus und wirres Zeug. Mein Kulturmensch 2020 Die 96-jährige Anne Beaumanoir, deren widerständigem Leben die Autorin Anne Weber in ihrem Buchpreis-prämierten „Heldinnenepos“ ein kühnes Denkmal gesetzt hat. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Vivaldis Oratorium „Juditha triumphans“ an der Stuttgarter Staatsoper, zu Füßen der Titelfigur nicht das Haupt Holofernes’, sondern dieses kugelförmige Ding, das uns so zugesetzt hat. Stefan Kister ist Redakteur im Ressort Kultur.
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Jochen Laube: Mein spannendstes Kulturerlebnis Unsere Uraufführung von „Berlin Alexanderplatz“ auf der Berlinale. Über 1000 Menschen haben dort mit uns erlebt, was Kino, was gemeinsames Schauen ausmacht. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Wie mit Kulturschaffenden umgegangen wird. Die Einschätzung, was „nicht systemrelevant“ ist, ist des Landes der Dichter und Denker nicht würdig! Mein Kulturmensch 2020 Joe Bauer – er hat mit seiner Künstler*Innensoforthilfe Stuttgart über 600 000 Euro an privaten Spenden gesammelt und unbürokratisch verteilt an Kreativschaffende in Not. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Menschen in Kinosäle, Konzerthäuser, Jazzklubs und Theater zurückzubringen und der Kultur ihren Stellenwert und ihren Zauber zurückzugeben.Jochen Laube ist Filmproduzent in Ludwigsburg
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Julius Pfeifer: Mein spannendstes Kulturerlebnis Das Antrittskonzert von Yuval Weinberg als Chefdirigent des SWR-Vokalensembles. Hinter der entspannten, bescheidenen Fassade dieses jungen, sympathischen Kerls steckt viel künstlerische Reife. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Wie wenig von der coronabedingten immensen Neuverschuldung in nachhaltigen Umstrukturierungen landet. Mein Kulturmensch 2020 Der Jazzmusiker Till Brönner – wegen seines emotionalen und bestens informierten Aufrufs zur Solidarität mit Kulturschaffenden. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Die Rückkehr zu öffentlichen Konzerten mit MusikerInnen, die sich gegenseitig spüren, und mit einem Publikum, das sich der Bedeutung solcher Ereignisse bewusster geworden ist.Julius Pfeifer ist Tenor im SWR-Vokalensemble.
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Gunther Reinhardt: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Berlinale. Aber nur, weil das Filmfestival das letzte Großereignis war, bei dem ich 2020 dabei sein konnte. Sich ans Gedränge in den Kinos zu erinnern gleicht einer Reise zurück in die Zeit der Unschuld. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Dass Trump leugnend und lügend trotz seiner Abwahl die politische Kultur der USA nachhaltig vergiftet hat. Mein Kulturmensch 2020 Dominic Pencz, dessen „Ohne uns ist’s still“-Fotos Stuttgarter Kulturschaffende porträtieren und damit eindrücklich auf eine kollabierende Branche aufmerksam machen.Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Dass Popkonzerte wie die von Teenage Fanclub oder Crowded House, für die ich bereits Tickets habe, tatsächlich wieder in vollen Sälen stattfinden dürfen. Gunther Reinhardt ist stellvertretender Leiter des Kulturressorts.
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Tim Schleider: Mein spannendstes Kulturerlebnis „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“: Mit einem poetischen Parcours meldeten sich die Stuttgarter Staatstheater im Juni nach Lockdown 1 zurück. Ich träume noch davon im zweiten Lockdown. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Das Gebaren Donald Trumps nach der Wahl am 3. November, sein Lügen und Betrügen, die Begnadigungen für seine kriminellen Mitstreiter – welch ein beschämendes Reality-TV! Meine Kulturmenschen 2020 Joe Biden und Kamala Harris bei ihren Wahlsiegreden am 7. November auf diesem Parkplatz in Wilmington – die Rückkehr der Vernunft in die Politik; ich musste weinen. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Die zweite Runde für Philipp Stölzls„Rigoletto“ bei den Bregenzer Festspielen. BITTE NICHT ABSAGEN!!! Tim Schleider leitet das Kulturressort.
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Helke Stadelmeier: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die vielfältigen, spannenden und innovativen Möglichkeiten, Kultur zu genießen, ob gestreamt oder als kleine feine Konzerte, Lesungen oder Theateraufführungen. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Die Schließung des Kinos Metropol und damit der Verlust eines tollen Premieren- und Festivalkinos. Mein Kulturmensch 2020 Ist nicht ein Mensch, sondern das Kulturwerk Ost, das wunderbare kulturelle Arbeit leistet und dabei Menschen eine zweite Chance gibt. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Vielfältige, bunte und schöne Veranstaltungen in unserem Vaihinger Buchladen. Helke Stadelmeier ist Buchhändlerin, ihr Vaihinger Buchladen wurde in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet.
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Anne Vieth: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die eingesparten Stunden in Zug und Auto ermöglichten, sich Zeit für „Lokales“ zu nehmen. Ein Highlight war „Beyond the Pain“ in der Galerie der Stadt Sindelfingen. Unser Konsumverhalten wird sich auch mit Blick auf Kulturereignisse verändern. Das kann eine Chance sein. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2020 Es ist schon ziemlich schmerzlich, ein erfolgreich anlaufendes Ausstellungsprojekt schließen zu müssen. Vielleicht können die Türen von „WÄNDE I WALLS“ nochmals öffnen. Mein Kulturmensch 2020 Ich ziehe meinen Hut vor dem großen Zusammenhalt, der an vielen Stellen in der Kulturbranche deutlich wurde. Und das Projekt, das hoffentlich 2021 gelingt Mit Freunden tanzen gehen. Anne Vieth ist Kuratorin am Kunstmuseum Stuttgart.